Die Station Nummer Neun

Station Nummer 9 – Wie Pfleger Sasha und Gena im Heim für Alte und Behinderte das System verändern

In der Station Nr. 9 des „Dritten psychoneurologisches Internats für Alte und Behinderte der Stadt Minsk“ landen aus naheliegenden oder weniger naheliegenden, immer aber schrecklichen Gründen erwachsene Menschen, die körperlich und geistig schwer krank sind. Sie können sich nicht selber schützen, es fällt ihnen schwer, für sich selbst zu sorgen, und für sich selbst zu sprechen. Sie sind ausgestoßen aus dem für uns normalen Leben als Mitglied einer Familie und der Gesellschaft. Wenn kaum jemand von dir weiß und fremde Menschen die absolute Verfügungsgewalt über dich haben, können schlimme Dinge geschehen. Selbst wenn sich der Staat kümmert. Damit diesen Schutzlosen, die nicht antworten, nicht schreien, zum Teil vielleicht nicht mal verstehen, dass ihre menschliche Natur mit Füßen getreten wird, nichts schlimmes passiert, kommen tolle mutige Menschen zur Arbeit in die Station Nr. 9.
Dies ist eine Geschichte über solche Menschen und über die „Sache Neun“.

Ort: Drittes psychoneurologisches Internat für Alte und Behinderte der Stadt Minsk, Vygotskaja Straße 14, Station Nr. 9 (im Folgenden „die Neun“, „9. Station“)
Hauptpersonen:
Daria Nikolaevna Jaskevich, Psychologin, Therapeutin, Pädagogin, Kunsttherapeutin
Genadij (Gena) Smoljak, 26: Pfleger der 9. Station
Aleksandr (Sasha) Kurec, 29: Pfleger der 9. Station
37 Bewohner im Alter zwischen 20 und 93 Jahren

Ein menschlicher Geruch
An die süßlich würzige Geruchsmischung aus Urin, Kot und ungewaschenen Menschenkörpern gewöhnst du dich innerhalb von 3 Minuten, der winzigen Menge an Zeit, die sie braucht um sich dir in Haut, Haaren und Kleidung festzusetzen. Das ist kein Gestank, eher ein zutiefst menschlicher Geruch. So riecht ein Mensch, dem die Krankheit Alzheimer ein würdiges Altern und die Erinnerung an die Angehörigen geraubt und als Perspektive nur Tod oder Panik gelassen hat. So riechen Menschen, deren Windeln nicht immer rechtzeitig und oft genug gewechselt werden. Menschen mit dem ganzen Spektrum der Altersdemenzen, die dazu führten, dass ihre Verwandten ihnen die Geschäftsfähigkeit entziehen ließen und sie ins Heim schickten. Manche Angehörigen verstecken sie dort und genieren sich von ihnen zu sprechen, andere lieben sie, können aber nicht mehr oder wissen nicht, wie sie mit der Krankheit umgehen sollen und wieder andere haben sich fürsorglich um sie gekümmert, sind aber bereits verstorben.
Unsere Bekanntschaft mit den Pflegern der Neun, Aleksandr Kurec und Genadij Smoljak kam, wie vieles in der Welt, durch eine Frau zustande. Vor einigen Monaten startete Daria Jaskevich, Psychologin des Internats, einen Aufruf über ihre Facebook Seite:

Bitte teilen, sofern möglich!
Es geht um die „Sache Neun“
Das ist eine wichtige Sache. Im Internat gibt es die Station Nummer neun, die schwerste. Dort leben stark beeinträchtigte erwachsene und jüngere Menschen. Manche haben viele Jahre auf dem Buckel…..und die Krankheit Alzheimer, die ihnen ein würdiges Altern und die Erinnerung an die Liebsten geraubt hat und nur alles verzehrende Panik übrig ließ. Manche sind schwer kognitiv eingeschränkt und verletzen sich selbst. Auf dieser Station leben Menschen, die unsere Hilfe benötigen, Überwachung rund um die Uhr, Fürsorge, Liebe, Sorgfalt und Respekt. Wir möchten das Leben in der Neun verbessern. Vieles haben wir bereits erreicht dank unserer progressiven Leitung, und wollen noch mehr machen. Auf der Station wohnen 37 Menschen, sie haben jetzt einen Fernseher und einen Musikraum. Die Zimmer sind etwas gemütlicher geworden. Das Personal lernt einen ethischeren Umgang, auch wenn das nicht einfach ist. Inzwischen benutzen wir Zeichnungen, damit die Alten selber den Weg zur Toilette finden und nicht über die Station irren.
ABER! Uns fehlt es an Spielzeug, Hygieneartikeln und anderem. Zum Beispiel an Zusatzriemen, um die Menschen im Rollstuhl zu befestigen.Wir haben nicht genug einfache Kleidung, Hosen mit Gummizügen, Tischdecken. Vor Allem aber brauchen wir Menschen.
Warum nicht genug Spielzeug? Ganz einfach. Das Internat ist ein Heim für Erwachsene und daher prinzipiell schlecht damit ausgestattet. Warum fehlen Hygieneartikel?Wir haben einen hohen Verbrauch und können manches, wie Schwämme nicht einfach nachkaufen – es gibt viele Stationen, das Budget ist begrenzt. Und spezielle Anschaffungen können wir nicht tätigen, weil sie hier nicht produziert werden und im Budget nicht vorgesehen sind. Daher bitten wir hier um eure Hilfe. Und die Kleidung? Aus naheliegenden Gründen muss sie häufig gewaschen werden und geht bald kaputt. Aber Achtung, nicht alle Kleidung passt uns, zB ist es sehr schwer, enge Jeans über die Pampers zu ziehen.
Wir schaffen das, wenn ihr helft! Wenn ihr Ideen oder Kapazitäten habt um unsere Omas und Opas, unsere Männer und Frauen in der Neun zu erfreuen und zu ehren, dann meldet euch!

Wir betraten eines der Internatsgebäude, klingelten an einer grauen Tür, an der auf einem roten Schild mit goldenen Buchstaben „Station Nummer 9“ geschrieben stand, und wurden von Genadij und Aleksandr in Empfang genommen. Nach kaum einer Woche, die wir auf der Station verbrachten, war uns klar, dass es ein Verbrechen wäre nicht über die beiden und ihre ungewöhnliche Arbeit zu berichten. Denn sie sind Persönlichkeiten. Wie auch alle, die in den Zimmern hinter der Tür wohnen und auf der Bewohnerliste stehen. Sie muss man festhalten für die Nachwelt, und sei es an dieser Stelle. So wie die Inschrift auf dem Rennrad des Pflegers Aleksandr besagt: «Stop making stupid people famous» („Hört auf, dumme Leute zu Berühmtheiten zu machen“)
Die Neun- das sind die schwersten Fälle des Heims. In ihrem Kern eine Reihe von Zimmern, in denen erwachsene und betagte Menschen zuende leben. Und obwohl viele (viele, aber nicht alle) von ihnen die Fähigkeit zum klaren Denken verloren haben, haben sie doch das Grundsortiment an Emotionen behalten. Wie jeder von uns freuen und erschrecken sich diese Männer und Frauen, die alten Leutchen mit verschieden schweren Besonderheiten der Entwicklung, körperlich und geistig, angeboren oder erworben, sie sind gereizt, neugierig, traurig oder wütend. Wie jeder von uns sind sie sensibel für Schmerzen. Völlig schutzlose Menschen, die man lieben und schützen muss, was nicht immer gelingt.
Wir einigen uns schnell darauf, dass die „Neun“ keinerlei Charme hat. Die Bewohner hier sind nicht niedlich, sondern manchmal gemein und böse, manchmal fröhlich und gutherzig, gewöhnliche Menschen, die gutes und schlechtes getan haben und jetzt halt hier leben. Ein Lehrer, ein Zirkusartist, ein Musiker, ein ehemaliger Direktor einer großen minsker Firma, ein Kriegsdienstverweigerer, die Großmutter Leonarda, die mit ihren 93 Jahren selbstständig ihr Bett macht. Der sympatische Kostik, der auf Händen und Knien den Boden entlang robbt und in „dem“ Leben sehr schlechte Erfahrungen gesammelt hat. Lena, die darauf wartet, dass jemand ihr ein Radio bringt und die alte Ljusja, der ihr „Kurkuljak“ wehtut. Mit Kurkuljak meint sie dabei ihr Herz. Oma Valja, die denkt, dass Pfleger Gennadij böse ist und immer fragt, wo denn Pfleger Aleksandr sei. Der ständig vor und zurück schaukelnde Danil, der er sich sofort beruhigt, wenn man ihn am Kopf kratzt. Zhanna. Mit Zhanna muss man sowieso aufpassen, denn sie könnte einen aufessen.
Romantik gibt es in der Arbeit der Pfleger keine, dafür viele menschliche Abfallprodukte, viele physische und geistige Anforderungen: einen schweren Menschen heben, ihm die Windeln wechseln, ihn füttern, umsetzen, waschen, ihn im Rollstühl über das Heimgelände fahren, Aufmerksamkeit austeilen, auf Bitten eingehen, sich unterhalten. All das möglichst gut und mit jedem einzelnen zu schaffen erscheint nicht allein schon körperlich unrealistisch. Und danach – Toiletten, Zimmer, Flure putzen. Schichtwechsel nach drei Tagen ohne Schlaf. Drei Pfleger für 37 Menschen. Die Arbeit ist schwer, routiniert mit geringem Einkommen und hohem Stresslevel.
Aber man muss die Mitarbeiter nicht dafür loben, dass sie anderen Menschen den Po abwischen. Sondern für etwas anderes.

Die Pfleger: Aleksandr und Genadij
Gennadij Smoljak arbeitet auf der Station seit gut einem Jahr. Früher hatte er lange Haare, hinter denen er sich verstecken konnte, jetzt einen Kurzhaarschnitt. Die ersten zwei Monate in der „Neun“ hat er nach Möglichkeit geschwiegen und die Kommunikation mit dem restlichen Personal vermieden, weil er nicht wusste, wie er sich auf ungezwungene Art mit den Kollegen unterhalten sollte. Gennadij ist gegen die Kittel, da für ihn der weiße Kittel ein Symbol von Macht und Kontrolle ist, und möchte seine Schützlinge einmal ans Meer mitnehmen und sie die Salzluft atmen lassen. Er empfielt allen, Burroughs zu lesen, obwohl er selbst ein Freund hochwertiger Literatur ist.
„Ich verkaufe meine Zeit nicht für Geld. Für mich ist es hier interessant und ich habe die Kraft und die Möglichkeit, am Leben dieser Menschen teil zu haben, sie zu unterstützen und ihren Tag vielfältig zu gestalten. Und dabei ein Beispiel eines humanen Umgangs mit ihnen zu geben. Wahrscheinlich braucht man mich hier und jetzt, denn würde ich an einem anderen Platz gebraucht wäre ich doch dort“, sagt Gennadij.
„Und ihr erzählt nur positives?“, fragt Aleksandr Kurec, der den Teil unserer Unterhaltung mit Gennadij mitgehört hat, in welchem wir über die positiven Entwicklungen in der „Neun“ im letzten Jahr dank dem Einsatz einiger interessierter Menschen sprachen.
„Das ist Sasha, er kann von dem Schlechten erzählen“, übergibt Gennadij das Wort an Pfleger Aleksandr,. Unter „dem Schlechten“ versteht Gennadij die Unzulänglichkeiten der Pflege durch die Kollegen und die schlechten Beziehungen dieser mit den Bewohner der „Neun“.
„Ich muss mich mit der Leitung beratschlagen“, antwortet Aleksandr, die Psychlogin Darja Jaskevich, die ihn und auch Gennadij in das Heim gebracht hat, ironisch als Leitung bezeichnend.
„Tatsächlich hat es hier schon einige Verwarnungen auf schlechtes Verhalten gegeben. Du kannst mehr dazu sagen. Ich kann darüber nicht so gut reden, wahrscheinlich, weil ich ein zu schwacher Mensch bin für so etwas“
„Ja, wenn ihr auch etwas negatives im Interview haben wollt kann ich dazu was sagen“. Seinem Tonfall nach hält Aleksandr den Besuch von Journalisten für sinnlos, wie auch die ganze Profession.
„Das ist kein Interview. Und schlechte Fakten sind kein Selbstzweck. Aber wir würden gerne erfahren, was in der „Neun“ so los ist“, antworten wir.

Pfleger Aleksandr sprach lange, viel und wütend über das Leben der Bewohner der Neun und über den nicht immer ethischen Umgang einiger der Kollegen mit den schwer kranken Menschen der Station, hier eine Auswahl und Interpretation dessen, was wir davon teilen können und müssen. Es wäre hilfreich, wenn zur „Neun“ Menschen kommen (Fachpersonal, Freiwillige oder beides), für die die Worte „Ethik“ und „Humanismus“ und die Idee, dass jeder Mensch ein Recht auf eine menschenwürdige Behandlung hat, keine abstrakten Sammlungen von Buchstaben und Wörtern sind, sondern Charaktereigenschaften und Berufsgrundsätze. In der „Neun“ gibt es nicht genügend Menschen, die den Bewohnern einige Stunden Unterhaltung, Aufmerksamkeit und Fürsorge schenken könnten, sich mit ihnen anfreunden und alles bereden, was sie teilen wollen und können.
Igor zum Beispiel liebt es, wenn man ihm die Handflächen streichelt, Linien darauf fährt, dann passt er aufmerksam auf und wundert sich. Sasha B hat Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium, deshalb schreit er oft laut vor Angst. In dem Moment ist es gut, wenn jemand bei ihm ist, ihn zudeckt, streichelt und ihm damit Teil seiner Furcht und Sorgen abnimmt, ihm etwas Liebes sagt, was er natürlich nicht versteht aber aufmerksam anhört. Man kann zu Valja oder Lena fahren und ihnen etwas aus der zeitgenössischen Literatur vorlesen, wofür sie wahrscheinlich keinerlei Dankbarkeit zeigen (wenn sie es überhaupt bemerken), dennoch ist das wichtig und notwendig, da sie Menschen sind.
Man kann mit Laptop kommen und Filme zeigen, man kann den Pflegern helfen, die Rollstühle über das Internatsgelände zu schieben, denn wenn du nicht hilfst, ist es wahrscheinlich, dass die Bewohner der Neun gar nicht herauskommen, was für sie eine traurige Nachricht ist. Und Kostik kann man lotsen, damit er selber mit den Fäusten den Rollstuhl bewegt – Kostik liebt es selber im Rollstuhl zu fahren, sieht allerdings sehr schlecht, weshalb er immer einen Begleiter braucht, der ihm sagt wo es lang geht.
Jeden Abend machen die Pfleger die Menschen bettfertig und legen sie schlafen. Das ist ein zeitraubender stressiger Vorgang, begleitet von Gestank und Schmutz, und auch hier wäre zusätzliche Hilfe dringend nötig. Den Bewohnern Mittagessen, Frühstück und Abendbrot verabreichen. Große helle Schildchen an die wertvolle gespendete Kleidung der Bewohner nähen, damit sie aus der Wäsche sicher zum Besitzer von Hose, Rock und Pullover zurückkommt. Helfen kann man auch überall sonst. Du musst nur die Schwelle zur „Neun“ überschreiten und sofort merkst du, wo genau du hier nützlich sein kannst.

Fortsetzung des Dialogs:
– und überhaupt, wo in der Welt ist mal etwas gutes mit Hilfe von Gewalt bewirkt worden? Es gibt kein einziges Beispiel. Deshalb – Gandi, Tolstoi… – bemerkt Gennadij
– Gandi war ein Sexist, – entgegnet Aleksandr, und wir erinnern uns an eine weitere Aufschrift auf seinem Fahrrad: «Love sex, hate sexism».
– Gandi? – Gennadj ist äußerst gelehrt und nicht jeder kann einer Debatte mit ihm standhalten. Das gleiche gilt für Aleksandr.
– Ja. Und er hat seine Frau geschlagen – fährt Aleksandr fort.
– Echt? – Gennadij ist ernsthaft verwundert.
– Ja.
– Mist, das will ich nicht glauben. Man muss immer abwägen, was man glaubt und was nicht.
– Sind wir jetzt wieder bei der Dichotomie Gut-Böse – holen wir die Pfleger zur kausalen Verbindung mit der Neun zurück.
– Nein, es geht darum, dass es Sachen gibt die für dich annehmbar sind, und welche, die es nicht sind – antwortet Aleksandr.
– Und welche?
– Schreibt, alle Bewohner sind körperlich abhängig von den Pflegern – betont Gennadij.
– Andere Frage, bevor ichs vergesse. Hast du noch Kontakt zu diesen Jungs von der Radiogruppe – unterbricht Aleksandr Gennadij.
– Ja.
– Ich war gestern mit B. (Name einer Bewohnerin) spazieren, da hat sich herausgestellt dass sie ihr ganzes Leben als Monteurin von Druckerplatten gearbeitet hat. In Kürze, sie braucht einen Lötkolben.
– Oh, ich kann ihr meinen leihen.
– Und Platten. Platten nehmen, Dioden herstellen, dann lötet sie das alles. Ich denke, das würde ihr gut tun.
– Kein Problem.

Wann wird gebadet?
Alle, die in der Neun wohnen hatten ein Leben „davor“, manche erinnern sich daran, andere nicht. Manch einer sagt: „was war, das war“, ein anderer durchlebt lautstark seine nebeligen Erinnerungen oder teilt neue Fantasien, obwohl sein Talent zu fantasieren immer schwächer wird. Von dem Moment an, in dem es sie hierher verschlägt, passen sie sich an, durchschnittlich innerhalb eines halben Jahres. In den letzten 6 Monaten sind fünf gestorben und drei neue gekommen.
Mit dem Bewohner Sasha K., intelligenter, ordentlicher Eindruck, um die 70 Jahre alt, lösen wir Kreuzworträtsel. Sasha wohnt seit gut einem Jahr in der Neun. Seine Verwandten besuchen ihn nicht. In der ersten Zeit war Sasha besonders gesprächig, erzählte seinen Nachbarn von Schriftstellern und Komponisten und versuchte im Dialog mit seinen Mitbewohnern zu bleiben. Aber es ist schwer das Gespräch am Laufen zu halten mit Menschen, die sich nicht unterhalten können oder wollen. Innerhalb des einen Jahres ist Sasha vom lächelnden alten Mann zu einer grimmigen grauen über die Flure der Neun wandelnden Figur mit über der Brust gekreuzten Armen und angespannter Körperhaltung geworden. Sein Lächeln, strahlend aber kurz und scharf sahen wir zweimal – als Genadij Sasha ein Lied vorsang und als er ihm die Hand schüttelte. Ein solches Schicksal erwartet hier alle neuen mit erhaltenem Intellekt, aus Einsamkeit und Mangel an Unterhaltung und Beschäftigung ähneln sie immer mehr dem Durchschnitt der Station. Manche Pfleger unterhalten sich bisweilen mit den Bewohnern, aber – wir erinnern uns – 37 Bewohner: wie viel Zeit können die wenigen Pfleger einzelnen wie Sasha widmen?
Zudem wiederholt Sasha immer wieder die Frage: „wann wird gebadet?“. Er macht das hartnäckig, egal ob er eine Antwort bekommt oder nicht, die Frage bleibt unverändert und ständig gestellt erschöpft und nervt sie das Personal. Dennoch haben Genadij und Aleksandr bald verstanden, dass hinter der Wiederholung der Frage aufgrund des teilweisen Verlusts der kognitiven Fähigkeiten ein Bedürfnis Sashas nach tieferer Unterhaltung steckt: ein Bedürfnis nach geistiger Beschäftigung und dass die ständige Wiederholung manchmal ein Zeichen dafür ist, dass Sasha nervös ist.
Das lernen wir, wenn wir die Geduld aufbringen. Wir verstehen, dass Sasha das Baden braucht, um, in seinen eigenen Worten, sich zu waschen, frische Kleidung anzuziehen und dann für immer wegzugehen. Nach Hause. Langsam entspannt sich ein Gespräch und wir stellen ohne Hintergedanken unsere üblichen Fragen: wo Sasha gewohnt hat. Er erzählt, dass er am Prospekt der Unabhängigkeit im fünften Stock gewohnt hat. Auf dem Balkon hatte er Vögel. Wir fragen nach seinen Verwandten, Freunden, aber je tiefer wir zu seiner Vergangenheit jenseits der Mauern der Neun kommen, desto öfter wiederholt er seine Frage nach dem Baden. Plötzlich mischt sich Gennadij in unsere Unterhaltung ein:

– Diese Erinnerungen können schmerzhaft für ihn sein. Das ist Gewalt gegen ihn. Ich habe seine Verwandten gesucht und nicht gefunden. Sein Zuhause ist hier, das andere Leben gibt es nicht mehr. Es reicht.
Hier sei nebenbei angemerkt, dass jegliche Gewalt gegen seine Schützlinge in Genadij Agression gegen den Verursacher der Bedrohung weckt. Unser Fotograf stahl sich mit seiner Kamera in einen besonders intimen Moment hinein, als Gennadij einer alten Frau den Po von Exkrementen reinigte und ihr die Windeln wechselte. Es kam zum Konflikt. Gennadij forderte mit scharfem, bis dato nicht bekanntem Tonfall: „Ihr könnt zuschauen, aber mit Respekt!“.

– Na, dann lass uns die Hauptstädte durchgehen. Die Hauptstadt von Mexiko, Sasha? – fahren wir fort.
– Mexiko
– Von Kanada?
– Ottawa
– Deutschland?
– Ost oder West? (er lächelt!)
– DDR
– Ost-Berlin
– Der Präsident von Belarus?
– Lukashenko. Und wann wird gebadet?
– Dein Lieblingsschriftsteller?
– Ich habe Prischwin geliebt. Gorki, Saltykow-Schtschedrin. „Verstand schafft Leiden“ von Gribojedov.
– Komponisten?
– Rimsky-Korsakov. Dunajewskij, Prokofjew. „Aschenputtel“…

Und wieder mischt sich Gennadij ein, singt irgendwas nicht neues, aber zeitloses und erklärt, dass schwerste an der Arbeit sei für ihn das Fehlen von Musik. Die ersten drei Stunden käme er zurecht, dann würde es hart. Auf die Frage, warum er nicht einfach einen Musikplayer anmacht antwortet er: „ Das wäre irgendwie egoistisch gegenüber den hier Wohnenden“
– Kannst du spielen? – wendet sich Gennadij mit einer Bitte an Sasha K.
– Gebt mir ein Akkordeon, ich versuchs. Ich habe als Akkordeonspieler im Orchester gearbeitet. Ich habe Rybalka geliebt. Und wann wird gebadet?

– Gennadi, ihr seid schon fast ein Jahr in der Neun. Erinnert ihr euch an etwas schönes – fragen wir.
– Was gutes. Ich muss nachdenken. Es gab viele schöne Erlebnisse.
– Das schönste?
– Wahrscheinlich, als Igor selbst den Müll rausgebracht hat, über den ganzen Flur, selbstständig die Tür geöffnet und danach wieder zugemacht hat.
– Warum genau das?
– Weil kaum jemand ihm zutraut selbstständig etwas zu machen und er – bäm – es einfach gemacht hat. Er hat das System besiegt. (er lacht)

Mein Lieber Sanfter
Was die Erfüllung sanitärer und epidemiologischer Bedürfnisse in der Neun angeht ist alles gut. In jedem der vier Zimmer gibt es eine Toilette, auf deren Boden man im Schneidersitz sitzen und die Karottenkoteletts, die Gennadij heute mitgebracht hat, auf den Boden auslegen und sie ohne Angst vor Magen-Darm-Beschwerden essen kann. Das gleiche gilt für die Klobrille. Hier herrscht nicht mal der vertraute typische Geruch der Neun. An der Wand hängen Regale aus Stoff mit Zahnbürsten, für jeden im Zimmer eine. Sehr saubere Zahnbürsten.
– Warum sind sie so sauber? – fragen wir Pfleger Aleksandr.
– Keiner putzt damit irgendwelche Zähne. Man hat nicht die Zeit dafür. – erklärt er.
Währenddessen ist das Großmütterchen aus Zimmer drei langsam in die Toilette gekommen. Setzt sich auf die Klobrille, ruht sich aus.
– Mein Lieber, mein Guter. Komm mal her – wendet sie sich an Aleksandr.
– Ja, Großmutter?
– Oj, ich liebe dich!
– Und ich erst Sie!
– Oh, das Haus, das Haus. Ich bin zuhause.
– Und ich habe kein Zuhause, Großmütterchen.
Aus persönlichen Gründen, die er nicht verrät, verlässt Pfleger Aleksandr in einem Monat Belarus. Vergangenen Freitag hat er aufgegeben, nachdem er drei Monate auf der Station Nummer 9 gearbeitet hatte. Die Stationsschwester hat geweint, als sie von seiner Entscheidung erfuhr. Er hat einen Monat länger gearbeitet als anfangs geplant.
– Um Dasha tuts mir leid, – sagte er als wir uns verabschiedeten.
Aber Trauer hilft nicht. Die Psychologin des Internats, Darija Jaskevich, die Dritte im Bunde, hat viele Jahre alles dafür getan, die Menschen sichtbar zu machen, die der soziale Radar nicht auf dem Schirm hat. Vor drei Jahren hat der Heimdirektor der Leitung der Neun eine Blankovollmacht gegeben. Und richtig kalkuliert. Es wurde schöner. Wo vorher alle auf dem Flur saßen – Standard in solchen Einrichtungen – und vor und zurück wippten, sitzen jetzt alle mit Buch und Fernseher in den Zimmern und wippen weniger.
Früher gabs auch den englischen Park mit Lauben und Beeten noch nicht, den es jetzt gibt, nachdem für diese Sache ein einmaliges Budget erkämpft und dann der Park auf dem Gelände innerhalb von einem Sommer angelegt wurde. Früher wäre es unmöglich gewesen, Punks einzustellen, jetzt geht das.
Früher wurden die Bewohner nicht mit Namen angesprochen, jetzt schon. Und überhaupt wurden sterile Worte wie „Patient“, „Insasse“, „Schlafraum“ nach und nach aus dem Vokabular gestrichen und durch die im Westen üblichen Worte „Station“, „Bewohner“ und „Zimmer“ ersetzt.
Früher wohnten 6-7 Personen in einem Zimmer, jetzt vier-fünf (da die Zahl der Stationsbewohner reduziert wurde), was Veränderungen ermöglichte wie beispielsweise die, dass für jedes Zimmer ein Pfleger zuständig ist, was die Arbeitslast für die drei Pflegekräfte pro Schicht verringert. Und wo früher alle drei Pfleger gleichzeitig losrannten um eine Windel zu wechseln, da kommt heute ein Pfleger nach Schulung leicht alleine mit dem Wechsel einer Windel zurecht.
Früher war es im Heim verboten Veranstaltungen (Ausstellungen, Konzerte) zu organisieren und Leute von Außerhalb dazu einzuladen, jetzt ist das möglich. Auf dem Video (s. Unten) sieht man den Storch Foma. Auch er lebt im Heim und ist der Liebling der Bewohner. Er ist hier ungefährdet, isst nur frisches Fleisch und Fisch. Foma fliegt nie fort von hier, weil er einen gebrochenen Flügel hat. Eine zeitlang hatte Foma einen gefiederten Mitbewohner, den Barbarie-Ganter Pacman. Pacman war mit gebrochenem Fuß im Heim aufgetaucht. Er starb im Planschbecken: vermutlich war er nachts hineingeraten und kam nicht mehr heraus. „Es reicht, keine Vögel mit gebrochenen Gliedern mehr!“ – entschied die Psychologin des Internats Daria Jaskevich.
Früher bewegten sich die Bewohner der Neun als einförmige Masse in gleicher Kleidung über das Gelände, heute trägt jeder seine individuell passenden Pullover, Kleider, Hosen und Tücher. Doch was die Käppies der Männer angeht (sehr leuchtend dunkelgrüne Käppies mit giftig hellgrünen Streifen) bleibt die Frage der Individualität offen.
Früher waren die Wände der Neun trüb und scheußlich, keine Vorhänge und Gardinen an den Fenstern, und heute sind die Zimmer wohnlicher: die Wände in schönen Farben neu gestrichen, gemalte Bilder, Vorhänge und Traumfänger. Spielzeuge wurden gefunden und für Maksim (24) sogar ein multifunktionelles Rehabilitationsset mit Wanne und Spezialstuhl angeschafft.
Früher wurden in den Zimmern der Neun die Worte „Ethik“, „Humanismus“ und „Nächstenliebe“ nicht einmal in den Mund genommen, heute kommen sie in den Gesprächen des Personals vor, und wie.
Früher hatte Daria Jaskevich nicht vor das Internat zu verlassen, und heute hat sie das auch nicht vor. Im Gegenteil plant sie zusammen mit Kollegen und Mitstreitern weiter progressive Veränderungen in die Arbeit der Neun einzubringen.

Wie man helfen kann
Daria Jaskevich und ihre Kollegen haben ein Projekt auf die Beine gestellt mit dem Namen „Sache der neunten Station“, welches die Lebensqualität und das emotionale Wohlergehen der schwer kranken alten und behinderten Menschen der Station Nummer Neun des „Psychoneurologischen Internats Nummer 3“ erhöhen soll und ihnen einen fürsorglichen Umgang mit ihren physischen Bedürfnissen bieten soll.
Wie
– einen spezialisierten Therapeuten finden und einstellen
– zwei zusätzliche ausgebildete Pfleger mit ethischen Prinzipien und hoher Empathiefähigkeit einstellen
– alles Notwendige erwerben: Unterlagen, Windeln, Feuchttücher, Schwämme, Seifen, Waschpulver, antientzündliche Salben, Duschgel, Plastikhandschuhe, Dosen, Plastikmülltonnen, Müllsäcke, Rasseln, Fußmatten, Hemden, Hosen, Hausschuhe
– Freiwillige einbeziehen

Dafür wird ein Geldbetrag von 7200 Rubel benötigt. Dieser setzt sich für ein Jahr folgendermaßen zusammen:
– Verbrauchsgegenstände 200r/Monat, 2400 r /Jahr
– Gehalt des spezialisierten Therapeuten in Teilzeit 400 r/Monat, 4800/Jahr