Eine Reise in die Hoffnung

– Vom Alten Neuen Jahr bis zu den Heiligen Drei Königen –

(Für mehr Fotos in besserer Qualität schickt bitte eine Anfrage an arkadi@kanikuli-ev.de)
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Wer hat eigentlich während der Winterfreizeit frei? Der Winter ist es in diesem Jahr nicht, im Gegenteil. Pünktlich traut er sich erstmals mit frostigen Fingerchen Mädchenwangen und Trinkernasen zu röten. Über jungfräulich weiße Straßen jagen zwei rappelvolle Busse, schicken wilde Schneewirbel die Böschung hinab und beschallen den Birkenwald mit lauter Musik, der eine Radiopop – der andere Anarchopunk. Die Gesichter der Insassen verschwinden im Dunkel zwischen Pelzkragen, Rucksäcken, Taschen. Geschichten über heimatlose Karnickel, den Planet der Liebe und Sehnsucht nach dem ägyptischen Barcelona durchbrechen das müde Schweigen, verwickeln uns in den ewig wahren Mythos der Hoffnung.
Wie jede gute Geschichte über das Hoffen spielt auch unsere in der Schwerelosigkeit der Schwelle zwischen Alt und Neu, und ein wenig in der Schwerelosigkeit von Jurij Gagarin, diesem technokratischen Weihnachtsmann. Doch hört nur: ein echter, roter Väterchen Frost läutet die Glocke zum alten Neuen Jahr! Was es uns wohl bringt? Einen Sack voll Buttons – „Denk mit dem Kopf – Entscheide mit dem Herzen!“ – farblich unterscheidbare Waschlappen für die ganze Meute und ein schnelles Aus für das orthodoxe Kreuz aus Teelichtern. Am Ende der Bescherung muss aus der noch gesichtslosen Gruppe nur Julia für eine Nacht ins ferne Haus Nummer 21. „Ich bin kein kleines Kind und kann schon alles selbst.“, bemerkt sie zurecht. In ihrem Schal würde jeder Drill-Sergeant vergeblich eine Falte suchen, denn Julia weiß: „Die Allersauberste und Allerordenlichste, das bin ich!“
Zum Frühstück piekst und hämmert sich noch immer ein „Dock, dock, dock!“ vom Vorabend in den Gesichtskreis unseres Erzählers. Zurechtgesägte Brotbacksteine kleben gut mit Buttermörtel, am besten spachtelweise, erklärt uns unser Bauarbeiter und leidenschaftlicher Schubkarrierist Anatolij. Leider gibt man ihm keine Schubkarren mehr. Er muss sich, seit er sein Gesundheitsbüchlein nicht mehr bekommt, mit Rollstühlen begnügen. Sehr zur kreischenden Freude Valentinas. Drei Monate wartet sie bereits auf die Genesung ihrer Großmutter, bisheriger Antrieb ihres Rollstuhls, ihres Psychologiestudiums an der Universität und ihrer Arbeit in der Behindertenwerkstatt mit dem Namen – ist er Fügung für diese Parabel? – „Insel der Hoffnung“.
Mit dem Neuen Jahr torkeln auch die ersten Theaterübungen ungeplant zur Tür hinein. Das Stop-and-Go lässt uns hochnäsig, tieftraurig und lachhaft werden. „Mannomann. Alter, was geht?! Alter, was geht?!“, bündelt Maria mit tiefmodulierter Altstimme ihre Eindrücke in eine ewig gleiche Wortkaskade. Diese junge Dame im Pelz, Ebenbild Anna Achmatowas mit ihrer ganz eigenen Poesie und Gestik, faltet säuberlich Konfektpapier, versteckt sich hinter zitternden Händen und lugt durch die gespreizt verkrampften Finger. Welchem Ritter wird diese ausdauernde Tänzerin im Passgängerschritt die Krone aufsetzen? Karnickel-Olja übt sich während gemeinsamer Toilettenbesuche einfühlsam in Kuppelei. Väterchen Frost scheint ein heißer Kandidat zu sein. Aber die Liebe ist ein vertracktes Labyrinth, der Vorhang fällt erst im allerletzten Morgengrauen. Bis dahin leben wir noch in der Hoffnung.
Worauf gründet sich diese Hoffnung? „Auf der Bro’schaft“, weiß Mischa, hutzeliger Bro’ther vom schweiglosen Demiurgen Jurij, dem kosmischen Held der letzten Jahre. Manche munkeln, den Titel „Fürst des Bösen“ hätte Mischa sich in einer Irrenanstalt selbst auf die Hand tätowiert, zusammen mit den Punkten auf den Knöcheln, jeder einzelne Symbol für ein Jahr im Arbeitslager. Doch wo, wenn nicht im Lager hätte er seine Verehrung für bloße Marienbilder und blonde Perücken finden sollen? Sein Rücken ist sicherlich wie bei russischen Mafiosi mit Kathedralen verziert. Und die Magie der Bro’schaft, die gründet auf einem Wurstbrotturm mit alkfreiem Bier und filterfreien Kippen, auf Kreuzfahrten und gemeinsamen Abenteuern. Auf geht’s!
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Die Suche nach magischen Schwertern und Fahnenstangen führt uns tief in den Wald hinein, bis an die Ufer des Eismeeres. Ob unter der Kruste wohl Fische schwimmen? Der heulende Wind – oder sind es Wölfe – lässt keine Zeit für mutige Expeditionen, allein die ordentlichste und sauberste Julia schaffte es den Schnee von den Bänken zu fegen. Der verhexte Weg treibt selbst Schubkarrieristen den Schweiß auf die Stirn, die Gedanken werden löchrig, wo sind unsere Schwerter und die magische Fahnenstange hin? Zurück im Hort der Hoffnung bleiben nur zwei giftige Drachenfänge und umnebelte Gesprächsfetzen wabern in der von therapeutischen Aromen geschwängerten Luft. Demiurg: „…mit der Pistole erschossen…“, Achmatowa: „Das ist doch gut so, erschießen muss man!“, Valentina: „Mein Opa war in der Armee und im Krieg“, Schubkarrierist: „Chrrr, schnaaaarch, chrrrrr“.
Wer hat also frei auf dieser Winterfreizeit? Nicht die Küchenfeen, die mit zauberhafter Freundlichkeit Wünsche erfüllen, drei unsichtbare Münder füttern und engelsgeduldig auf langsame Genießer warten bis Marias lang vermisste Altstimme wieder erklingt: „Komm schon, Väterchen Frost, zieh dich endlich an!“, es geht zum Tanzpalast. Zur Audienz läd der weiße Ritter, Andrej, eigentlicher Held dieses Theaterstücks, nicht nur Kung-Fu-Panda und Breakdancer, sondern auch Ausdruckstänzer und charmantes Modell. Dieser Bass, dieser Rhythmus, dieser Hüftschwung! Wer könnte widerstehen, außer einer echten Prinzessin und einer Horde Kinder, durch die ein rasender Rollstuhl wie ein roter Drache seine Kreise zieht.
„Was ist denn das für ein Waschlappen?“, fragt Dima, mutiger Page und zukünftiges Drachenopfer, nachdem er sich den Tanzschweiß abwusch, „Da ist ja nur noch das Netz übrig, da muss ich wohl mal Fische fangen gehen.“ Fraglich bleibt jedoch, ob auf dem Weg zum See auch Wölfe sind, ein Jaulen ist zwar nicht zu vernehmen, doch Spuren sind noch in den Schnee gedrückt. „Er lebt, lebt und man weiß nicht, wann er stirbt…“, wer weiß also, ob es im nächsten Jahr einen neuen Besuch in die Hoffnung gibt.
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Der letzte Morgen graut. Ein einsames Pferd galoppiert über die Schneefelder. Traurig ertönt das suchende Lied auf der Schalmei des weißen Ritters. „Wieso verschmähst Du mich, holde Prinzessin?“, schreien die Noten hinauf in das Gemach des Burgturms. Sie schreien laut und lauter. Zu laut. Ein Riss zuckt auf im nahen Berg. Der alte Wall erbebt und hebt sich. Grausam lag er lange Jahrhunderte, nun ist es Zeit. Nur diamantene Anmut kann solche feinfühligen Töne hervorlocken, horcht der rote Drache. Schrecken der Welt, Räuber des Schönen, Vernichter der Schwachen und Mörder der Unschuldigen! Gnadenlos wütet er über Berg und Tal, Stadt und Land, keine Frau, kein Mann sind ihm gewachsen. Die Prinzessin ist im Nu gefunden, die Burg kein Widerstand gegen den fliegenden Weltenschinder. Um den höchsten Turm der Welt kringelt sich ein roter Schwanz hinab vom Dachfirst über dem Prinzessinnengemach bis zum marmornen Fundament. Die Hoffnung Andrejs schwindet schon, verschwindet gar. „Klong, klong, klong!“, dröhnt sie zurück in sein Herz. Der weiße Ritterbund eilt Schwerter schlagend seinem hoffnungslosen Bruder zu Hilfe. Sie pieksen und hämmern, sie hacken und fallen. Karnickel-Olja ereilt der Tod als erste. Prophetisch muten Dimas Worte an, als er, ohne Schild dem Drachenodem ausgeliefert, lächelnd zu Boden geht. Roboterritterin Julia, akkurat und rostfrei, hackte den siebenten und letzten Kopf des Ungeheuers ab, doch in seinem Todeshauch schmilzt auch sie zu einer Pfütze blubbernden Eisens dahin. Die Burg liegt in Schutt, die Prinzessin floh mit der Krone. Nur Drachenblut und Ritterasche lauschen dem einsamen Lied der Schalmei. „Wieso verschmähst Du mich, holde Prinzessin?“, weinen die Noten hinauf zu Gagarin, „Wem setzt Du nun deine Krone auf?“ [bild4]
„Mir hat Olja gefallen, das war’s.“, ist ihre hoffnungsvolle Antwort, die Hände entspannt im Schoß gefaltet.

Wer hat nun frei auf der Freizeit? Dima hat während der Winterfreizeit frei, Julia hat genauso frei wie ihre Namensvetterin Valentina, Anatolij hätte gerne frei und der Demiurg ist so frei. Diese und andere Zitate kommen bald auch auf bewegten Bildern.

– Geschrieben von Väterchen Frost

Mit Dank an all die namhaften Heldinnen und Helden, in Wahrheit noch viel heldenhafter, und Dank an all die unter die Räder der Redaktion Gekommenen, Hoffnungsvolle dieser Freizeit, schöner Gast und stolze Mutter, Pferdekopf und Sonnengebräunter, Telefonjoker und Windelwechslerin, stumme Fotografin und Kamerafrau, 11. Teilnehmer und Hochzeitsplanerin, Furzerdulderin und drei verliebte Busfahrer, sowie besonders an das zurückhaltende Charisma.