Runder See 2016: Nadias Eindrücke

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Text: Nadezhda Kislaja

Auf dem „Runden See“ war ich zweimal und ich hoffe sehr, dass das letzte Mal nicht wirklich das letzte Mal sein wird. Warum?


Wenn ich diesen Text nach dem ersten Mal beim Runden See geschrieben hätte, enthielte er nun viele Wörter über die Euphorie des erlebten Neuen, über wehmütige Gefühle beim Gedanken an die Ebenbürtigkeit von Allen, über die Freuden der Arbeit in einem Team und die begeisternden Wettkämpfe, über interessante Menschen, über die Bewunderung starken Mutes und Bewunderung, über die Begrüßung des Sonnenaufgangs über dem See, über nasse Schlafsäcke, über mit Heidelbeeren verschmierte Finger, über Flöten am Morgen und Didgeridoos am Abend. Aber mehr als alles andere über das Gefühl, dass wirklich alles möglich ist und jede Einschränkung nur in den Köpfen besteht.


Versteht man jetzt, was mich ein Jahr später dazu ermuntert hat, die Bewerbungsunterlagen ein zweites Mal auszufüllen? Vor der zweiten Teilnahme dachte, ich weiß schon, was ich erwarten kann, und habe mich schon vorher über die Möglichkeit gefreut, Menschen zu treffen, die Erfahrungen gemacht haben, die sich stark von meinen unterscheiden. Menschen, die die meiste Zeit in ihren, mir unbekannten Kontexten leben: geografisch (der „Runde See“ zieht Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus vielen verschiedenen Ecken von Belarus an), sozial, altersmäßig und so weiter.

Und natürlich, Begegnungen mit Menschen, die sich äußerlich von mir unterscheiden. Nach der ersten Teilnahme wurde ich sensibilisiert was das Thema Behinderung angeht und dadurch, so dachte ich, sollte ich doch anfangen öfter Menschen mit Behinderung auf der Straße oder an anderen öffentlichen Orten zu bemerken. So ergeht es uns mit Allem, das an irgendeinem Moment innerhalb unseres Weltbildes in den Vordergrund tritt. Aber nichts dergleichen ist passiert! Weder in Minsk noch in Grodno bin ich im letzten Jahr „zufällig“ einem Menschen mit Behinderung begegnet, weder im Café, im Theater, auf der Bank oder im Park.


Wenn man berücksichtigt, dass laut der Statistik, jede*r Zwanzigste in unserem Land die eine oder andere Behinderung hat, scheint das sehr ungewöhnlich. Ansonsten ist der „Runde See“ eine beeindruckende Sache, genau deshalb, weil er eine Neubetrachtung von Dingen anregt, die früher „offensichtlich“, „richtig“, „natürlich“ oder „unnatürlich“ schienen.

Das lässt sich sogar mit den Beispielen aus dem ersten Absatz illustrieren:

1. Dank dem „Runden See“ weiß ich nun sicher, dass die wichtigste Unterscheidung zwischen Menschen nicht in dem liegt, was uns als erstes ins Auge fällt.


2. Ich weiß nun überhaupt nicht mehr, was als natürlich und gesetzmäßig gilt, auch dank des „Runden Sees“. Nach vielen Gesprächen mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern hat sich bei mir der Eindruck gefestigt, dass einen beträchtlichen Teil der Menschen mit Behinderung die Möglichkeit am öffentlichen Raum teilzuhaben, gar nicht so sehr interessiert. Oder wenn, dann auf der Gesprächsebene, statt auf einer teilnehmenden Ebene. Es zeigt sich: „Die Rettung Ertrinkender ist Sache der Ertrinkenden selbst“ und wenn Behinderte von dem Wunsch nach Integration in die Gesellschaft sprechen, dann müssen zu allererst sie selbst sich darum kümmern. Sie müssen ihre Bedürfnisse so kommunizieren, dass sie gehört werden, das Problem benennen und – sehr wichtig – selbst Vorschläge zu einer Lösung anbieten.


3. Die ersten beiden Punkte sind miteinander verbunden. So wäre es ja eine Utopie zu behaupten, dass Behinderte sich von Menschen ohne Behinderung nicht unterscheiden. Aber das Wesentliche dieser Unterscheidungen wird nicht sofort verständlich. Und bei ihrem Erkennen hilft wieder einmal der „Runde See“. Die Abwechslung der vielen körperlich fordernden Teamaufgaben mit den ebenso vielen eher geistig fordernden Teamaufgaben schafft eine intensive Interaktion. Genau nach einer solchen engen Bekanntschaft (sowohl im physischen als auch im seelischen Sinne) ergibt sich die Möglichkeit Schlussfolgerungen zu ziehen. Während der spielerischen Übungen zeigten die Menschen mit Behinderung manchmal tatsächlich Passivität und einige Konservativität und Unwillen, die Sache auch mal aus einer anderen, ungewohnten Perspektive zu betrachten. Jedenfalls kann ich vorwegnehmen, dass es meist so war wie immer: Die aktiven Leute zeigten sich aktiv, die passiven … wie man es ihnen sagt – und solche Leute gab es bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit Behinderungen genauso wie bei denen ohne. Und in diesem, wie auch im letzten Jahr, hatte ich den Eindruck, dass beim zen-buddhistischen Spiel „Vielleicht muss es auch so sein“ eher die Menschen mit Behinderungen gewonnen hätten.


Einige Anlässe, diese Eindrücke weiter zu verstärken gab auch das diesjährige Thema: Sozialisation. Wir gründeten Familien mit strenger Hierarchie, Businessstrukturen, organisierten Arbeitsplätze, warben Leute zur Arbeit an – oder konnten eben genau dies nicht tun. Und zwischen unseren Aufgaben – oder vielleicht war genau das auch unsere eigentliche Aufgabe – teilten wir einander mit: Und wie ist das im richtigen Leben? Im richtigen Leben kann es sehr unterschiedlich sein. Einige übervorsichtige Eltern schaffen nicht die notwendige Balance zwischen der Erfüllung der Bedürfnisse der Kinder und Frustration, die notwendig ist für die Entwicklung der Persönlichkeit und der Ausarbeitung von Fähigkeiten zur Bewältigung von Hindernissen. Als Ergebnis bleibt der schon erwachsene Mensch ohne die „Angel zum Fische fangen“ und muss also ohne Fähigkeiten und Fertigkeiten seine Ziele erreichen. Zum Beispiel ohne Fertigkeiten, die es ihm ermöglichen, auf dem Arbeitsmarkt zu konkurrieren, oder ohne die Fähigkeit sich „zu verkaufen“, seine Stärken zu präsentieren.

Interessant, dass wir einige Tage davor noch darüber diskutiert haben, ob eine bloße Behinderung ausreicht. Wir sind dabei, meine ich, zu dem Schluss gekommen, dass das nicht ausreiche … Somit hilft der „Runde See“ auch dabei die Theorien in der Praxis anzuwenden.


Ich werde nie vergessen, wie bei dem Spiel „U-Boot“ (es geht unter, nicht alle können gerettet werden und wir sollen auswählen, wem wir die Chance auf ein Überleben geben) jemand vorschlug die Menschen mit Behinderung im U-Boot zurückzulassen – was gäbe es da überhaupt noch zu überlegen … Ansonsten entstanden unter stressigen Bedingungen mit begrenzter Zeit, beim schrittweisen Sinken auf den Grund und dem notwendigen Aushandeln einer Übereinstimmung noch weitere interessante Vorschläge. So könnte man alle retten: Frauen, Männer, Junge, Alte, mit Kindern, Kinderlose, Kluge. Kurzum, eine anschauliche Demonstration der Gleichheit Verschiedener auf einer basalen Stufe.

Natürlich sollte nicht vergessen werden, dass es schwerere oder weniger schwere Beeinträchtigungen gibt, mehr oder weniger Möglichkeiten. Aber Möglichkeiten gibt es immer: Ich erinnere mich, wie es mich vor Empörung bei einigen körperlichen Aufgaben bei meiner ersten Teilnahme schüttelte. Mir schien, dass die Organisator_innen und Trainer_innen uns verspotteten, indem sie vorschlugen unmögliche, gefährliche und beängstigende Sachen in begrenzter Zeit zu machen. Ich erinnere mich, mit welcher Vorsicht wir uns gegenseitig zu Beginn anfassten oder wie verlegen jemand zu Beginn noch seine Anliegen äußerte … Wir wussten nicht, dass wir in wenigen Tagen als ganzes Team problemlos auf zwei Quadratmetern Platz finden würden, dazu noch auf einem Bein. Sich immer anstoßend und aneinander festhaltend. Oder dass andere um etwas zu bitten, nicht mehr so schwierig erscheinen würden und das Abfragen der Bedürfnisse der anderen zu einem einfachen Automatismus wird – alles ist viel einfacher, als es schien.

Über all solche eigentlich ziemlich trivialen Sachen hat man sich möglicherweise noch nie vorher im Leben Gedanken gemacht, ist noch nie mit ihnen in Berührung gekommen oder hat sie nie unmittelbar erlebt.

Auf dem „Runden See“ kann man in zehn Tagen seine bisherige Vorstellung der Welt beträchtlich bereichern. Von so vielen Eindrücken und Überlegungen, die man in dieser kurzen Zeit macht, kann einem schon mal ganz wirbelig im Kopf werden – aber auch der Wald, der See, das abendliche Lagerfeuer und Sternenhimmel tragen ihren Teil bei: die intensive Arbeit fühlt sich zauberhafterweise eher an wie tatkräftige Erholung.
Einen „Runden See“ kann man bekanntlich auf keiner Karte finden. Nichtsdestotrotz passt der Name des Ferienfreizeitseminars genau zu seinem Aufbau: Der „Runde See“ bieten genau dieselben Optionen wie die runde Tafel von König Artur: die Möglichkeit zu gleichberechtigter Teilnahme und Austausch, die Suche nach einer gemeinsamen Lösungen oder die mutige Anerkennung, dass es eine solche nicht gibt, und schlussendlich die Möglichkeit gesehen und gehört zu werden. Oder zu hören und zu sehen.

Es gibt eine kleine magische Übung, mit der man den Grad der Bereitschaft den Anderen anzunehmen bestimmen kann: Man muss tief einatmen, die Augen schließen, sich größtmöglich auf die Menschen, die einem umgeben, einstellen – und von Eins aufwärts zählen, ohne aus dem Takt zu kommen und ohne einander ins Wort zu fallen. Die letzte ausgerufene Zahl zeigt die Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Am ersten Tag blieben wir bei Acht hängen, gegen Ende schafften wir es viel weiter bis zur 35. Muss ich noch mehr sagen?


Unterstützt durch die Robert-Vogel-Stiftung.