Selbstorganisation und Schneemannbauen

Bericht über das zweite Seminar im Rahmen des Projekts „Gewöhnliche Eltern“

von Ruben Werchan


Der Winter ist, nicht nur für belorussische Verhältnisse, recht mild. Trotzdem sorgte er für genug Schnee, dass dieser es schaffte zu einem tragenden Bestandteil des zweiten großen Seminare im Projekt „Gewöhnliche Eltern“ zu werden. Ort des Geschehens ist das weitläufige Gelände des Zentrums für Rollstuhltanz in einem Vorort von Minsk. Hier, wo sonst die Gewinnerinnen und Gewinner internationaler Wettkämpfe im Rollstuhltanz trainiert werden – mehrere, mit Pokalen gefüllte Vitrinen zeugen von 40 Jahren voller sportlicher Erfolge – trifft sich eine Gruppe junger Mütter mit Behinderungen aus der Stadt Vitebsk und ihre Kinder. Vor ungefähr einem Jahr haben diese Mütter sich eine Selbsthilfegruppe geschaffen. Ziel war und ist es, sich bei Fragen und Problemen des Eltern-Seins an sich und des Eltern-und-Behindert-Seins im Speziellen gegenseitig mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Unterstützt wird der Gründungsprozess durch unserer Partnerorganisation Raznye-Ravnye (Verschiedene-Gleiche). Im Rahmen des Projekts Gewöhnliche-Eltern teilen Raznye-Ravnye ihre Erfahrung aus der Arbeit als Betroffenenorganisation aber auch aus dem Austausch mit Organisationen aus unterschiedlichen Ländern Westeuropas mit den Mitglieder der Selbsthilfegruppe und unterstützen sie bei organisatorischen Herausforderungen und beim Prozess der Gruppenbildung. Das Seminar ist Teil dieser Unterstützung. Unter der Leitung von Elena, einer Trainerin von der estnischen Organisation „Akademie der Kindheit“, die in Tallinn unter anderem einen Kindergarten und ein Jugendtreff betreibt, wurde fünf Tage lang intensiv an der Weiterentwicklung der Gruppe gearbeitet. Zu diesem Zweck setzte Elena auf die Verwendung von Gesellschaftsspielen als Methode.
Diese erfüllen dabei weit mehr als den Zweck der Unterhaltung. Durch gemeinsames Spielen und gegenseitiges Erklären wird das Gruppengefühl gestärkt – zumal bei vielen Spielen mit- und nicht gegeneinander gespielt wird. Das Erklären und und Verstehen von Spielen sind gute Beispiele für den Umgang mit Herausforderungen im ‚echten’ Leben und bietet gleichzeitig schnelle Erfolgserlebnisse. Zu guter Letzt ist das Beherrschen der Spiele etwas, was die Mütter und ihre Kinder den meisten Menschen in ihrem sozialen Umfeld voraus haben und damit Wissen, welches weitergegeben werden kann. So soll den Eltern die Angst genommen werden, auf Menschen in ihrer Umgebung zuzugehen und sie für etwas Neues zu interessieren und zu begeistern. Die Spiele sollen die Möglichkeit geben, Brücken zu schlagen und die Gemeinschaft mit dem sozialen Umfeld zu stärken und den Eltern mit Behinderung helfen ein Gefühl dafür zu bekommen, ein wertvoller Teil dieses Umfeldes zu sein. Eine Übung die leider nur zu notwendig ist, da vielen der Eltern dieses Selbstwertgefühl fehlt, was nicht zu letzte einer Gesellschaft geschuldet ist, die Menschen mit Behinderung meist als Last, anstatt als Bereicherung betrachtet – eine Eigenschaft die sich mit Sicherheit nicht auf die belorussische Gesellschaft beschränkt.

Sowohl Elena als auch Polina und Vadim von Raznye-Ravnye berichteten voller Begeisterung von der Entwicklung, die die Gruppe seit ihrer Gründung durchlaufen hat. So würden sie den Eltern und Kindern deutlich anmerken, dass diese sich mittlerweile in der Gesellschaft der Gruppe sehr wohl fühlten und ihre Skepsis, Verschlossenheit und eventuell auch Angst weitestgehend abgelegt hätten. Die Bestätigung und Wertschätzung die sie aus der Gruppe erhielten würde sich in ihrem Auftreten – und angeblich sogar ihrer physischen Erscheinung – widerspiegeln. Gerade vor dem Hintergrund dieser Entwicklung war es schön, dass auch Eltern und zukünftige Eltern aus den Städten Minsk, Gomel und Grodno am Seminar teilnahmen. Diese waren so begeistert, dass sie sich bemühen möchten, auch in ihren Heimatstädten ähnliche Gruppen zu gründen. Gleichzeitig zeigte sich aber auch, wie wichtig solche Seminare für die Entwicklung der Gruppe sind. Der intensive Austausch unter professioneller Leitung bzw. Moderation wird von allen Mitgliedern der Gruppe – Eltern und Kindern – sehr geschätzt und der Wunsch nach einer Wiederholung wurde vielfach geäußert. Die Entwicklung, die in den fünf Tagen gemacht wurde, war nicht zu übersehen und liefert selbstverständlich eine große Motivation für den Alltag. Großer Höhepunkt war dann auch das Bauen von Schneemännern, -Häusern, -Schildkröten und einigem mehr. Am Ende waren alle nass, alle erkältet und alle glücklich.
Aufgrund der Wichtigkeit solcher gemeinsamer Unternehmungen und um einen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen ist eine Reise der Gruppe nach Deutschland geplant. Dann sollen die Familien aus Vitebsk die Möglichkeit bekommen, sich mit Mitgliedern deutscher Elterngruppen, die über langjährige Erfahrung in der Arbeit als Selbsthilfegruppe und auch in der politischen Durchsetzung ihrer Interessen verfügen, auszutauschen. Für diese Reise bemühen wir uns im Moment um Fördermittel und hoffen, diese in ausreichendem Maße mobilisieren zu können, damit die Reise im September stattfinden kann.