Es berichtet Marei Adam, Minsk-Freiwillige der Aktion Sühnezeichen 08/09:
Das Winterlager, das erste Winterlager, liegt nun schon einige Zeit zurück… inzwischen ist es doch schon Frühling. Im Dezember fragte Dascha, die Pädagogin der Werkstatt des Erwachsenenheims des Minsker Stadtteils Novinki an, ob wir Lust hätten, als Betreuer mit ins Lager zu fahren, und wir sagten zu. An all den organisatorischen Papierkriegen im Vorfeld waren wir nicht beteiligt, und so kamen wir am Montag relativ nichts ahnend und alles erwartend im Psychoneurologischen Institut an. Die Werkstatt war voller Menschen, und ich hatte keine Ahnung, wer von den vielen vielen denn da überhaupt mitfuhr – insgesamt sollten wir doch nur vierzehn sein. Ein kleiner bedrücklicher Moment geschah noch vor der Abfahrt: wir drei deutschen Freiwilligen sollten von einer der geschlossenen Stationen noch zwei Teilnehmer abholen. Gingen also, irgendwie gab es Probleme, die wir nicht verstanden, aber immerhin kehrten wir mit zwei Leuten in die Werkstatt zurück. Doch einer der beiden, Kostja, sollte doch eigentlich gar nicht mitfahren, und so ging Dascha selbst noch einmal los, um den richtigen abzuholen. Und Kostja weinte, weil er doch mitfahren wollte und so kurz davor dann doch nicht sollte… in diesem Augenblick wurde mir bewusst, was diese paar Tage für die Bewohner des Erwachsenenheims bedeuten.
Wir luden das Gepäck und uns selbst in den Transporter, den uns das Heim freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte und der eher einem alten Schwarz-Weiß-Gangsterfilm als der Realität zu entspringen schien – es war enger als in einer Sardinenbüchse und trotzdem eiskalt, das Gepäck nicht gesichert, zur Aufheiterung und Zerstreuung wurde Schokolade ausgeteilt, während der Fahrer uns in höllischem Schlingertempo und im Rhythmus russischer Schlager in Richtung „Nadezhda“ beförderte. Und immer wieder tauchte in den Augen und den Mundwinkeln der Teilnehmer das Lächeln auf.
Insgesamt waren wir also vierzehn: acht Menschen mit Behinderungen und sechs Betreuer. Da waren: Dima und Karlo und Mischa und Jura, da waren Lena und Ljuba und Sascha und Sergej. Eine Krankenschwester aus dem Heim war mitgefahren, die sich als kooperativer als erwartet herausstellte und wirklich mithalf. Neben Dascha als Hauptorganisatorin gab es noch Aljona, eine belarussische Freiwillige, und Charlotte, Hans und mich als deutsche Kinderheimfreiwillige.
Das Zentrum „Nadezhda“ ist irgendwo in den Wäldern vor Minsk gelegen und eigentlich ein Erholungszentrum für Schulklassen aus den besonders stark radioaktiv kontaminierten Oblasten von Belarus. Doch auch mit einer Gruppe mit Menschen mit Behinderungen lässt es sich dort gut aushalten. Wir wohnten in insgesamt drei kleinen Häuschen mit jeweils zwei Etagen. Mit den beiden Rollstühlen war es manchmal ein wenig schwierig, sich durch die eigentlich zu kleinen Türrahmen zu quetschen oder ins Bad zu gelangen… Dafür waren die allgemeinen Korpusse behindertengerecht eingerichtet und die Versorgung bestens, auf alle unsere Wünsche wurde eingegangen, die obligatorischen Demolierungen und Kaputtungen und Verpeilungen mit einem Lächeln repariert und toleriert. Und, das muss gesagt werden, das Essen war vorzüglich und wurde auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmt.
Die nächsten Tage verflogen in einem kunterbunten Wirbel aus Farben und Tönen. Was haben wir wann noch einmal gemacht? Ich weiß es schon gar nicht mehr, alles floss und strudelte und war eigentlich doch ganz ruhig und beschaulich.
Morgens konnten wir einen der Werkstatträume in „Nadezhda“ nutzen. Er fungierte in der ersten Tageshälfte als Aufenthaltsraum, in dem sich alle versammeln konnten, wo gebastelt, Musik gehört, gemalt oder einfach nur zu Tee und Keksen gesessen wurde. Nach dem Mittagsschlaf fanden sich die Teilnehmer oft in kleinen Runden in den jeweiligen Hausküchen zusammen, spielten oder malten oder tranken Tee. Und nach dem Abendessen ging es schon ins Bett und man wunderte sich, dass der Tag so schnell vorbeigehen konnte, trotz der manchmal sich längenden halben Stunden vor dem Mittagessen und den immer mal wieder auftauchenden Pauselöchern…
Jeder Tag hatte seinen kleinen Höhepunkt. Einmal gab es Aromatherapie (die vor allem den Künstler Said/Mischa zu neuen Höhenflügen mit Papier und Stift motivierte), zweimal gab es eine Rückenmassage. Obstsalat wurde zubereitet, ein kleines Abendprogramm samt Kostümen gestaltet, die allgemeine Disko für alle Nadezhda-Bewohner besucht, ein riesiger Mensch und ein riesiger Vogel gemalt, es gab einen Abschlussabend mit selbstgebauter Torte, Spaziergänge, Eisschlitterei… zu allgemeiner Beliebtheit erlangte auch ein selbstgebasteltes Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Es war gar nicht so schlimm, dass man, gezwungenermaßen durch Wetter und Kälte entweder nur kurz oder manchmal auch überhaupt nicht rausgehen konnte – es gab genug zu tun und zu erleben.
Ein paar dieser Erlebnisse haben sich tief ins Gedächtnis geschlichen. Wie Dima mit uns Skilanglaufen war, durch einen Märchenschneewald in absoluter Stille zum zugefrorenen See, wo man ganz weit draußen die Zelte von Eisfischern sehen konnte und wir danach glücklich verschwitzt bei Tee und Schokolade in der Küche saßen.
Die Spaziergänge mit Ljuba, die in ihrem eigenen, prähistorischen Tempo gefühlte Stunden bis zum Speisesaal brauchte und deren Schritten man sich trotzdem gern anpasste: ab und zu bellte sie basstief eine Frage hinüber und lächelte.
Die Erzählungen von Karlos, was ihm am Tag am meisten gefallen hatte, ein Wirbelsturm aus Gesten und Lächellauten und Augenblitzen, seine pure Lebensfreude.
Die Lovestory zwischen Sergej und Lena, seine rührende ehrliche Aufopferung und ihr Prinzessin-auf-der-Erbse-Benehmen, er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und sie waren unzertrennlich.
Doch dann kam er, der letzte Tag. Alle merkten es, in der Luft musste es liegen, oder im Rauschen aus dem Wald hörbar sein, die Bedrückung. Wir funktionierten und packten und putzen und suchten die letzten fehlenden Handtücher. Manchmal sagte dann jemand: „ich will nicht zurückfahren.“ Dann schwieg man oder sprach doch ein paar beschwichtigende, nichtssagende Worte. Die Rückfahrt in der Maschine war nichts weiter als lang und kalt und trüb und man verbot sich darüber nachzudenken, in welche Normalität diese acht liebgewonnenen Menschen nun zurückkehrten. Zumindest eine Woche lang waren sie woanders gewesen und haben Goldstaubspurmomente gesammelt, sagte man sich zum Trost.
Das Winterlager ist positiv verlaufen und stellte besonders in Vorbereitung auf das Novinki-Kinderlager und das Raznye-Ravye-Sommerlager für uns deutsche Freiwillige eine wichtige, gute Erfahrung dar. Wir freuen uns schon auf das Kinderlager, das auch in Nadezhda stattfinden wird – im Sommer dann, mit mehr Draußenzeit und Wärme.
Doch am wichtigsten ist, dass einige Menschen der endlosen Katastrophe des belarussischen Heimalltages für eine kurze Zeit entfliehen konnten. Im Namen aller teilnehmenden belarussischen und deutschen Freiwilligen
Marei Adam