Runder See 2023

Erfahrungsbericht einer Teilnehmerin:

Ich erzähle hier von meinen Erfahrungen als Teilnehmerin am “Runden See” im August 2023. Vielleicht fällt es auch Dir dann leichter, zu entscheiden, ob Du Dich bewerben willst. Los geht’s!

Meine Erwartungen waren ziemlich uneindeutig. Das Konzept des “Runden Sees” war sehr anziehend, aber gegenüber dem Inhalt hielten sich einige Zweifel. “Wird das Programm nicht zu gezwungen und seicht sein?” – das waren die Gedanken einer Person, die an freiwillig-obligatorische und oft völlig miserable Veranstaltungen im Stil der Schulen und Universitäten gewöhnt ist. 

Zu meinem Glück verloren sich alle meine negativen Befürchtungen am zweiten Tag, als der didaktische Teil des Programms in vollem Umfang begann. Die Methoden (so werden am “Runden See” die in sich logisch abgeschlossenen Programmteile genannt, die jeweils das Format eines Spiels haben) können eine Gruppe Erwachsener über Stunden hinweg beschäftigen und ausgiebig erschöpfen. So etwas habe ich noch nie erlebt! Mitunter hatte man wirklich das Gefühl, dass vom Ergebnis der Teilnahme an der einen oder anderen Methode buchstäblich Dein (und nicht nur Dein) Leben abhängt. Das Geschehen lässt sich ohne Übertreibung als eine einigermaßen harte Gesellschaftssimulation bezeichnen, allerdings mit einem wichtigen Unterschied zur Realität: 

  • Wenn Sie behindert sind, kann es gut sein, dass Sie sich selten zuvor so sehr vollständig in die Prozesse um sie herum eingebunden gefühlt haben
  • Wenn Sie im herkömmlichen Sinne “gesund” sind, dann haben Sie aller Wahrscheinlichkeit nach noch nie zuvor mit so vielen behinderten Menschen auf Augenhöhe zu tun gehabt wie hier

Manche schwer zu verdauenden und von Zeit zu Zeit wirklich provokante Situationen bringen einen im Verlauf der Methoden dazu, den eigenen Kopf einzuschalten und über Dinge nachzudenken, denen man zuvor wenig Beachtung geschenkt hat. Wie kann ich meinen Gedanken so formulieren, damit er mit Sicherheit verstanden wird? Wie gehe ich mit einer Konfliktsituation um, damit sie sich möglichst nicht in eine unkontrollierbare Richtung weiterentwickelt? Woran wird entschieden, wer welche Verantwortung in der Gruppe übernimmt?
Das Thema dieses Jahres war “Teambuilding”, dementsprechend waren die Fragen gestellt. 

Derart lebt man dieses Leben vor sich hin und merkt dabei gar nicht, wie viel Wertvolles man für die Entwicklung der eigenen Soft Skills mitnimmt. Wäre ich Personalleiter, würde die Zeile im Lebenslauf über die Teilnahme am “Runden See” bei mir viel zählen! Dabei betreffen diese Fähigkeiten nicht nur die Interaktion mit Menschen mit Behinderung. Mit den Teilnehmer:innen ohne Behinderung gab es bisweilen auch mehr Schwierigkeiten. Ärger, Missverständnisse, die Unfähigkeit, seine Positionen konstruktiv auszutauschen, einfach Abneigung, Uneinigkeit – all das betrifft uns Menschen, alle und immer. Es lohnt sich dabei nicht, auf Akademismus zu warten. Einfach Lebenserfahrung, einfach Hardcore. 

Für mich persönlich war es sehr hilfreich, die Erfahrung zu sammeln, in einer Situation Teamleader zu sein. In letzter Zeit hat mir das Leben einige Signale gegeben, dass mir die Leitung verschiedener Arbeitsprozesse ziemlich liegt. Daher habe ich vieles, was in diesen 10 Tagen passiert ist, intuitiv aus der Position einer Teamleaderin betrachtet. Das war sehr wertvoll. 

Die Gedankengänge und Handlungsabläufe eines Haufens von mir kaum bekannten Menschen zu koordinieren, die immer wieder verschiedene Gruppen bildeten – das war eine heftige Übung!

Ein weiterer kleiner Punkt, der mich beunruhigt hatte, war die Gruppe der Menschen, die sich am “Runden See” trafen. Ich hatte keine große Lust auf Besäufnisse oder die Gesellschaft von Menschen, die sich mit anderen für meinen Geschmack mittelprächtigen Betätigungen beschäftigten. Aber auch hier verschwanden die Sorgen bereits am ersten Tag, am Tag des Kennenlernens. Selbstverständlich, auch in dieser Gruppe werden Leute darunter sein, die sich nicht mögen – darunter auch Menschen mit Behinderungen (egal wie unangemessen es scheint, das zu sagen!). Aber so funktioniert es auch insgesamt in der Gesellschaft, also sollte man sich darüber nicht wundern und sich auch keine falschen Illusionen machen. Auf jeden Fall allerdings wird sich die Mehrheit als superinteressante Persönlichkeiten herausstellen, die alle Deine gesamte 10-tägige Aufmerksamkeit verdienen. Es werden komplett unterschiedliche Menschen sein, mit ihren ganz eigenen unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Weltanschauungen. Und genau darin liegt der Punkt. 

Die Bedingungen, unter denen es während der Freizeit zu “überleben” gilt, heizen die Atmosphäre ein wenig auf. Man kann sie nicht wirklich als wild bezeichnen, aber sie sind auch weit entfernt von Komfort. Kurz gesagt, ist der “Runde See” ein hervorragender Nährboden für alles Angenehme und Unangenehme, was in einem  Menschen steckt und was sich im Alltag vielleicht nicht zeigt.
Tiefgründige und bisweilen sehr mutige Themen für Gespräche und Debatten kommen zu Tage: Geschlechterfragen, Religion, Feminismus, der Rahmen der modernen Familie, das Problem, eine Lebensaufgabe zu finden und so weiter. In Wirklichkeit ist alles viel weniger trocken und viel weniger politisch korrekt, ehrlich. Manche Unterhaltungen entstehen im Laufe der Methoden, andere durch die Teilnehmer:innen selbst in der Freizeit. Von Freizeit übrigens sollte man nicht zu viel träumen! Es lohnt sich wirklich nicht, den Rucksack mit Büchern vollzupacken, dafür wird keine Zeit sein und/oder keine Lust bestehen. Auch Daueronline kann man vergessen: Dafür wird weder der Akku, noch die eigene Kraft reichen.

Und jetzt, vielleicht das Wichtigste. Der “Runde See” ist ein Ort für einfache und komplexe menschliche Gefühle. Ein kleiner Kosmos mit eigenen Gesetzen, in dem die Alltagssorgen dauerhaft außen vor bleiben. Sich der Atmosphäre der Zusammenarbeit hinzugeben; aufrichtige Freude für sich selbst und andere zu empfinden; traurig sein, wenn man beim abendlichen Zusammensitzen am Lagerfeuer keine Gesellschaft findet; durch einen unbedachten Witz verletzt werden; zufälligen Körperkontakt genießen; eine Portion Zärtlichkeit und Fürsorge erhalten, wenn Dir an einem kalten Tag ein Pullover angeboten wird oder Dir geholfen wird, einen Spreißel aus dem Finger zu entfernen; sich wichtig fühlen; bei der Rückfahrt nach Hause mit Kopfhörern in den Ohren in Melancholie zu versinken, weil Du genau diesen Menschen lange nicht sehen wirst… All das und viele viele Dinge mehr, die sich mit Worten schwer auch nur annähernd beschreiben lassen. 

Zusammenfassung:

Was: Zeltlager, informelles Bildungsseminar, oder einfach eine völlig verrückte Mischung aller möglichen menschlichen Kontakte am Ufer des Flusses Kargavshina (und nicht etwa eines runden Sees, wie man vielleicht meinen könnte) mit etwa 50 Personen, darunter Freiwillige und Trainer

Worum es geht: Das Hauptthema jedes “Runden Sees” ist unterschiedlich. In meinem Fall war es Teambuilding. Dass etwa die Hälfte der Teilnehmer:innen gesundheitliche Besonderheiten oder Behinderungen hat, trägt zur Außergewöhnlichkeit bei.

Wozu: Um eine Woge der Begeisterung zu erfahren; um keine Verlegenheit mehr zu empfinden im Umgang mit Menschen mit Behinderung; um zu empfinden, was es bedeutet, inklusiv zu denken; um die Durchdachtheit der gesamten Organisation zu genießen; um zu lernen, die Stärken und Schwächen von Menschen objektiv zu erkennen, ohne sie als Überlegenheit oder Unzulänglichkeit abzustempeln; um die ganze Palette der Gefühle in zwischenmenschlichen Beziehungen zu durchleben

Für wen passt es nicht: Wer nicht bereit ist, sich in kaltem Seewasser zu waschen, morgens Haferbrei zu essen, intensiven sozialen Kontakt mindestens 10 Stunden täglich zu haben, offensichtliche Verstöße einiger Teilnehmer:innen gegen die eigenen Hygienestandards auszuhalten und nach einem vorgegebenen Zeitplan zu leben oder wer die Bedeutung warmer und wetterfester Kleidung und Schuhe sowie von Campinghockern nicht anerkennen kann.