Hans-Ulrich Probst, Minsk-Freiwilliger 2008/2009, berichtet über das Ferienlager für Kinder mit Behinderung aus dem Heim Novinki, das vom 29. Juli – 6. August im Erholungsheim Nadeshda stattfand.
„Gibt es dort Kissen? Und kann man da wirklich in einem See baden?“ Schon Wochen vor dem jährlich stattfindenden Lager sind einige Kinder nur noch auf „das Lager“ fixiert. Verständlich: Die Kinder wohnen ein komplettes Jahr auf geschlossenen Stationen und wissen großenteils nicht, was sich hinter ihren Internatsmauern verbirgt.
Insgesamt können in diesem Jahr immerhin 12 von über 250 Kindern aus dem Heim „Novinki“ (am nördlichen Stadtrand Minsks) in ein Rehabilitationszentrum unweit von der belarussischen Hauptstadt fahren, um dort eine Woche sich zu erholen. Sie sollen spezielle Förderung erhalten und neue Erfahrungen in einer für sie vollkommen unbekannten Umgebung machen. Eine Woche lang ist für sie jeden Tag Programm angesagt, bei dem alle Kinder im Alter von fünf bis knapp 30 eingebunden werden und vor allem Erfolgserlebnisse und Gruppenzusammengehörigkeit empfinden sollen: Gemeinsame Morgengymnastik, das Zubereiten einer Torte und eines Fruchtsalates oder das Bemalen von eigenen T-Shirts, sind nur wenige Ausschnitte des Lageralltags. Dinge, die für die 12 Kinder, die alle in den unterschiedlichsten Entwicklungsstufen stehen, im Heim unvorstellbare Dinge sind. Mit großer Freude sind viele Kinder an den Aktivitäten beteiligt, fangen an leise zu singen, lächeln vor sich hin und genießen den Moment des Gelingens. Alle Kinder haben für diese Woche Einzelbetreuung durch insgesamt neun Freiwillige aus Belarus und Deutschland. Eine Gruppe, die sich aus ganzjährigen Freiwilligen der deutschen Organisation „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ und belarussischen Studenten zusammensetzt. Jeder von ihnen hat speziell zu betreuende Kinder, so dass sich sehr schnell eine enge Verbindung zwischen Behindertem und Freiwilligem aufbaut. Selbst die Schlafzimmer werden von Freiwilligen und zu betreuenden Kinder für diese Woche geteilt.
„Lass uns wieder zum See gehen!“, fordert die 12jährige Diana einen Freiwilligen auf – am Vortag war sie nach langer Zeit wieder einmal in einem See unweit des Lagers baden. Sie konnte wahrscheinlich früher schwimmen, geschickt bewegt sie sich im Wasser, sie spielte ausgezeichnet Klavier und war jahrelang Klassenbeste. Seit einer rätselhaften Infektion vor drei Jahren und nachfolgenden Gehinrschäden kennt Diana nur noch den Internatsablauf, der durch das Aufstehen, die Essen und das Zubettgehen geregelt ist. Für sie ist das Lager eine kleine Möglichkeit, in einen gewöhnlichen Tag einer 12jährigen zurückzukehren. Kein Kind kann durch das Lager geheilt werden, dessen sind sich alle Freiwilligen vollkommen bewusst. „Wir wollen nicht nur den Kindern neue Erfahrungen vermitteln, sondern auch sie das Menschsein spüren lassen,“ wie eines abends Alexej, Theologiestudent aus Minsk, auf einfache Weise feststellt.
Alle Kinder genießen die sieben Tage währende Freiheit. Eines Abends ist Jura, 28 Jahre, verschwunden. Er hat Trisomie 21 („Down-Syndrom“), häufig unscheinbar und ist von niemandem aus der Ruhe zu bringen. Nach kurzer Suche findet ihn ein Freiwilliger in der abendlichen Diskothek, die auf dem Gelände veranstaltet wird, zwischen jüngeren Schülern tanzend wieder. Er kommt über das ganze Gesicht lachend wieder ans abendliche Lagerfeuer zurück, nach kurzer Schelte gesellt er sich zu allen wieder hinzu und schaut fasziniert in die Flammen und von Gesicht zu Gesicht. Gespannt hört er das Lied, das die deutsche Freiwillige Marei mit Gitarre singt. Einige Behinderte stimmen mit ein und brummeln vor sich den alten russischen Klassiker hin.
Einige jüngere Kinder liegen schon im Bett, für sie ist das Lager eine spezielle Erfahrung. Sie alle wurden von Eltern vor nicht allzulanger Zeit in ein Heim „abgegeben“, in dem es keine Individuen gibt. Elterliche Nähe ist für allesamt daher absolut fremd und so entstehen aus der fortwährenden Einzelbetreuung während des Lagers für die Kleinen unglaublich wichtige Momente.
Abends, wenn auch die älteren Behinderten schlafen, setzen sich die Freiwilligen am Lagerfeuer erneut zusammen, um den vergangenen Tag zu besprechen und die nächsten Aktionen zu planen.
Doch sieben Tage sind keine Zeit, sie vergehen für alle wie im Winde. Es fließen bei einzelnen Behinderten beim Abschied Tränen. In einfachen Worten erklärt Jura, der über das Lager endlich angefangen hat ein wenig flüssiger zu sprechen, dass er doch gerne bleiben will. Am liebsten mit seinem Freiwilligen. „Hier ist es wirklich in Ordnung. Nach Hause will ich nicht.“
Ein in gewisser Art und Weise trauriger Transport setzt sich da nach der Freizeit nach „Hause“ ins Kinderheim in Bewegung. Es bleiben bei allen offene Fragen: Was nützt das Lager längerfristig den Kindern? Wie werden sich die Kinder wieder in ihren eintönigen Alltag nach sieben Feiertagen einfinden? Wann werde ich wieder ins Lager fahren?