von Johanna Kerber
Vom 8. bis 24. Juli fand das 15. Integrative Zeltlager „Krugloe Osero“ (Runder See) unserer Partnerorganisation Rasnye-Ravnye (Verschiedene Gleiche) statt. Nachdem in den letzten Jahren der Pleschtschenitzer Stausee, an dem der Runde See stattfand, immer mehr von vergnügungswütigen Touristen übernommen worden war, musste für dieses Jahr ein neuer Platz gefunden werden. Glücklicherweise gibt es ganz in der Nähe vom alten Ort einen weiteren, zwar kleineren, dafür aber viel ruhigeren Stausee. Nachdem wir alle Materialien aus der Garage am Stadtrand von Minsk zuerst in einen Laster geladen und 60km weiter an eben diesem Stausee wieder ausgeladen hatten, bauten wir elf Freiwillige (9 belarussische Freiwillige und neben mir als zweiter deutscher Freiwilliger noch Florian, einer der momentanen ASF Freiwilligen in Minsk) die ersten fünf Tage unter den wachsamen Augen von Vadim und Petja (dem dreijährigen Sohn einer Freiwilligen) das Lager auf. Dazu gehörten drei große Armeezelte, eins als Schlafzelt, eins als Aufbewahrungsort für Materialien und Werkzeuge und eins als Kantine und Sitzplatz für Regentage, außerdem ein weiteres Zelt für die Dusche und Banja (Sauna), mehrere kleinere Zelte für die Teilnehmer, einen Sitzkreis aus Baumstämmen und die beiden schwierigsten aber auch wichtigen Einrichtungen: die Küche und das rollstuhlgerechte Klo. Letzteres, ein Klohäuschen über einer Grube, kostete uns einige Nerven, da immer wieder Grundwasser aufstieg und wir Sorge hatten, dass es irgendwann überlaufen würde.
Nachdem am 5. Tag das erste Gewitter das Lager „getauft“ hatte und wir erleichtert feststellten, dass alles relativ dicht und gut gebaut war, reisten am 6. Tag die Teilnehmer an. Wir, nach 5 Tagen Arbeit im Wald schon recht schmutzig und eher funktional für das Waldleben gekleidet, begrüßten 35 saubere und ordentlich gekleidete Teilnehmer mit ganz viel Gepäck, dass erst einmal in vielen kleinen Haufen auf dem Gelände verteilt wurde. Zuerst standen alle noch kurz verloren neben diesen Gepäckhaufen, doch dann ging das Zeltaufbauen und Beziehen der schon aufgestellten Zelte schnell, und schon bald konnten sich alle am Sitzkreis einfinden um von Vadim und den drei Teamern Ruslan, Anja und Natascha begrüßt zu werden. Das Wetter begrüßte sie auch gleich mit Regen, und damit waren die Teilnehmer bald nicht mehr von den Freiwilligen zu unterscheiden.
In meinem Kopf verschwimmen die nächsten Tage zu einem riesigen Kascha aus Eindrücken, Abenden am Feuer, dem See, Beeren, Mücken, Zelten, viel Regen und wenig Sonne und ganz vielen Geschichten. Geschichten von Freundschaft zwischen allen diesen verschiedenen Menschen, die aber trotzdem alle zusammen gekommen sind um diese Zeit zusammen zu verbringen. Jeder trägt sein eigenes Päckchen, und trotzdem ist es für die Zeit nicht wichtig und mit den Tagen, mit Dreck und gemeinsamen Erfahrungen verschwimmen die Unterschiede.
Eindrücke vom Programm, das sich in diesem Jahr um das Thema „Verantwortung“ drehte. Für einen Teil dieses Programms wurde die Gruppe aufgeteilt in drei kleinere Gruppen, die alle ein „Stadtviertel“ des Lagers darstellten. Die ersten Tage mussten sie sich in verschiedenen Aufgaben als Gruppe zurechtfinden. Dazu sollten sie zum Beispiel in einer Art Schnitzeljagd verschiedene Stationen durchlaufen um für jede erfolgreich bewältigte Aufgabe den Schnipsel einer Karte zu erhalten. Eine Aufgabe war es, dass jeder der Gruppe über ein zu Beginn 15cm hohes Seil steigen musste ohne es zu berühren, nach jedem Gruppenmitglied, dass darüber gestiegen war, wurde das Seil um 10cm erhöht. Eine weitere Aufgabe war, dass die Gruppe auf einem 2 Quadratmeter großen Quadrat stehen musste und für eine Minute auch nicht umfallen durfte.
Nachdem sich die Gruppen zusammen gerauft hatten, mussten sie in den nächsten Tagen eine Bürgermeisterwahl durchführen, für die jede Gruppe einen Kandidaten aufstellen musste. An diesem Tag hingen die Bäume unseres Lagers voll mit Wahlwerbung – „Wir sind für das Glück- wir sind für Galja“ oder auch schlicht und einfach nur „Wählt grün“. Einen Tag boten die Teilnehmer viele kleine Workshops zu unterschiedlichen Themen, wie Massagen, Literatur, Knotenbinden oder Haareschneiden an.
An einem anderen Tag kamen drei Vertreter der belarussischen Menschenrechtsorganisation „Prava na Palzach“, die zum Netzwerk „Vesna“ (Frühling) gehört um einen Workshop zum Thema Menschenrechte und Menschenrechtssituation in Belarus durchzuführen.
Neben dem Programm arbeiteten die Gruppen auch immer ein Programm für die Abende am Lagerfeuer aus. Der schönste Abend war für alle sicherlich die Banja (russische Sauna). Dafür erhitzten wir Steine im Feuer und trugen sie dann in das neue blaue Banjazelt, wo dann Gruppen von fünf bis acht Leuten schwitzten und sich mit dem Venik (einem Wedel aus Birkenzweigen) „auspeitschten“. Als alle erhitzt aus der Banja kamen, standen am Seeufer schon die Helfer bereit um denen zu helfen, die nicht alleine ins erfrischende Seewasser gehen konnten. Dann stürzten sich alle kreischend ins kühle Nass um danach schnell wieder glücklich zum wärmenden Feuer zurückzukehren.
Jeder Freiwillige hatte seine Aufgabe, von Holzhacken bis zum Kochen. Ich arbeitete vor allem mit Stasja und Polina in der Küche, was für uns bedeutete, jeden Morgen vor allen anderen aufzustehen um das Frühstück zuzubereiten, außerdem jeden Tag gefühlte Tonnen von Gemüse und Kartoffeln zu schälen, immer nach Rauch zu riechen, den Ruß vom Feuer und den Töpfen irgendwann gar nicht mehr von Händen, Kleidern und sogar dem Gesicht abgewaschen zu bekommen und natürlich dreimal am Tag ein leckeres Essen meist in ähnlicher Konsistenz zu Kascha (Brei) auf dem Feuer zu kochen.
Florian und ich bekamen noch die Aufgabe einmal am Tag Wasser holen zu fahren. Also ließen wir uns mit Vadims Tavria, ein ukrainisches abenteuerliches kleines rotes Auto, gebaut für Menschen mit Behinderung mit Handgas, das sich anhört wie ein Traktor und mit Hänger auch genauso langsam ist, immer wieder auf das Abenteuer ein, das Autofahren in Belarus bedeutet. An manchen Tagen führte der Weg auch weiter, und wir fuhren bis Pleschtschenitza zum Einkaufen, wo wir immer auffielen und sogar einmal auf unseren Rauchgeruch angesprochen wurden.
Das Wetter war in diesem Jahr nicht gut zu uns und es regnete viel. Das Geräusch von Regen, der auf ein Zeltdach trommelt, wurde irgendwann schon normal und die Pfützen wurden so tief, dass das Wasser schon von oben in Petjas kleine Kindergummistiefel lief. Petja kam ganz erschrocken zu uns gelaufen, konnte vor Aufregung aber gar nicht erzählen, was passiert war, und als einer der Freiwilligen ihn hochhob um ihn zu trösten, lief das Wasser zu unserer Erheiterung dann wieder aus den Gummistiefeln raus.
Die Zeit schien langsamer zu laufen, aber dann doch auch viel zu schnell, und schon waren die zehn Tage um und es war Zeit uns von den Teilnehmern zu verabschieden. Deren Gepäck schien mehr geworden zu sein, und es ist mir ein Rätsel, wie es in die zwei kleinen Busse passte, aber irgendwie passte es dann doch und nach einer ausgiebigen Verabschiedung und langem Hinterherwinken standen nur noch wir Freiwilligen verloren im Regen in unserem plötzlich viel zu leeren Lager. Die nächsten zwei Tage bauten wir alles wieder ab, wobei das schlechte Wetter uns viele Schwierigkeiten machte und Vadim zu Meckerhöchstleistungen auflaufen ließ. Als der Laster kam und wir alles wieder verladen hatten, fuhren wir zurück nach Minsk, wo es in Strömen regnete und mir alles viel zu laut, zu voll und zu grau erschien und ich für ein paar Tage „unseren“ See noch sehr vermisst habe, ein Gefühl, das auch nicht von Annehmlichkeiten, wie einer warmen Dusche, sauberen Kleidern oder Handys und Internet wieder wett gemacht werden konnte.