Video von Lina Müller
Bericht von Leonie Sonnabend
Novinki, viel hörte ich in den letzten Monaten über den Ort. Viel trauriges, viel unbegreifliches, aber auch von schönen Momenten. Meine Aufregung stieg und stieg, umso näher wir dem Heim für behinderte Kinder in Novinki (Minsk) kamen. Ich traute meinen Augen kaum als wir das Gelände betraten: vor mir lag ein wohl gepflegter Garten mit Springbrunnen und Gartenzwergen. Das ist Belarus, der schöne Schein wird gewahrt, während Leben hinter den Mauern beinahe unmöglich ist. Dort liegen zu viele Kinder in einem Zimmer, sollen große Mädchen auf einem Spielplatz mit zwei kaputten Schaukeln und drei Bänken schöne Stunden verbringen. Doch in dem Moment, als die Kinder Julia, Lina und Florian sahen, erwachte ihre Lebensfreude. Zusammen spazierten wir durch den Garten, ich lernte Olja kennen, mit ihr würde ich die nächsten zehn Tage verbringen. Olja ist vierzehn Jahre und mit einer schweren geistigen Behinderung geboren. Bis zu ihrem fünften Lebensjahr lebte sie, in einem Rollstuhl sitzend, bei ihren Eltern, erst danach lernte sie in Novinki laufen. Sie kann hören, doch versteht sie kaum und spricht nicht. Sie braucht jemanden, der sie anzieht, wäscht, die Zähne putzt und füttert.
Während des Sommerlagers in Nadeshda (Hoffnung), einem Kurort für junge Menschen, die von den Langzeitfolgen der Tschenobylkatastrophe betroffen sind, kümmerten sich wir elf Freiwillige, zwei Pädagogen und eine medizinische Fachkraft, in „Eins-zu-Eins“-Betreuung, um 13 Kinder, von denen die meisten im Rollstuhl sitzen. Viele Erlebnisse sind nicht in Worte zu fassen, doch einige Momente blieben mir besonders in Erinnerung.
Jeder Morgen begann mit den durch die Flure schallenden Rufen des 15-jährigen Vadym nach „Musiku! Musiku!“. Er war erst glücklich, wenn er den CD-Player in den Händen hielt und verträumt den deutschen Kinderliedern lauschte. Gerhard Schöne schien ein Lied genau über unsere Kinder geschrieben zu haben: „Der Riese Glombatsch … Ist siebzehn Meter neunzig groß. … Tränen fall ’n in seinen Schoß. Er hat keinen Freund zum Spielen, alle reißen vor ihm aus“.
Währenddessen stand Igor am Waschbecken und füllte mit aller Seelenruhe Wasser vom Topf ins Glas und wieder zurück; rief Wanja, dessen 17. Geburtstag wir zusammen feierten, „Lonie! Lonie! Chatshy guljat. (Ich will spazieren gehen.)“. Schnell griff er nach meiner Hand und zog sich und seinen Rollstuhl selbstständig durch die Gegend.
Endlich Frühstückszeit. Schaute ich im Speisesaal einen Augenblick nicht zu Olja, griff sie in Windeseile nach Manias Essen. Auch im Aufenthaltsraum war keine Torte, kein Apfel, keine Kiwi, kein Keks vor ihr sicher. Nur der Salzknetteig schmeckte ihr nicht. Sie hat einen unerschöpflichen Appetit. Zwei Tische weiter saß Lena, ernst schaute sie zu uns rüber, bis sich plötzlich ein Meer von Küssen über uns ergoss und sie vor Freude ihr Gesicht hinter ihren Händen versteckte.
Nach dem Essen war Zeit spazieren zu gehen, Oljas zweite Lieblingsbeschäftigung. Ließ ich sie den Weg wählen, pendelten wir zwischen Spielplatz, wo sie andere Kinder beim Schaukeln, Klettern, Wippen beobachtete, und dem Speisesaal hin und her. Dabei unterhielt Olja mich mit ihrem Lachen, das sich noch steigerte, wenn sie Wasser sah und fühlte. Während der täglichen Whirlpool-Therapie, einem wahren Geschenk für alle Kinder, drückte sie ihre Freude mit dem ganzen Körper aus – plantschte, spritzte und jauchzte. Mit der Zeit merkte sie, dass ich nicht so gerne von oben bis unten nass werden wollte und nahm darauf Rücksicht. Bekommt sie mehr von der Umwelt mit als wir denken?
Mittagsschlafszeit. Das sah Olja anders. Mitleidig schaute sie mich und Lina mit ihren großen Rehaugen an, als wollte sie uns sagen: „Wie jetzt mitten am Tag soll ich schlafen? Viel lieber möchte ich spielen!“ Schaute ich nach fünf Minuten nochmal nach ihr, saß sie lachend auf ihrem Bett, Kopfkissen und Bettdecke von sich gestreift, und begann die Schuhe der Mädchen neu zu sortieren, danach kam die Kleidung dran. In dieser Stunde war nichts vor ihr sicher und zurück blieb Chaos, welches Jascha und Timofey gerne plappernd und kreischend untermalten und verstärkten.
In den Nachmittagsstunden bemalten wir Flaggen und T-Shirts, bastelten Masken und Regenmacher, säten Kresse, ließen bunt geschminkt Seifenblasen platzen. Neidisch starrten uns „normale“ Kinder an, die mit ihren Schulklassen dort waren. Doch liefen oder rollten Pascha, Mascha und die kleine Lena auf sie zu, wichen sie erschrocken aus – fast wie in dem Lied des Riesen Glombatsch. Sie sahen in dem Moment zum ersten Mal behinderte Kinder. Plötzlich zückten ein paar Jungs ihre Handys und begannen uns zu filmen. Was soll man da tun? Eine innere Stimme rief „Verbieten!“, oder ist es die Hauptsache, dass sie sich mit Behinderung auseinander setzen? In Belarus, wie früher in der Sowjetunion, ist Behinderung ein todgeschwiegenes Thema, auf den Straßen sieht man nur „normale“, gesunde Menschen. Alle anderen leben in Heimen außerhalb der Stadt oder werden Zuhause versteckt. Schulen oder Integrationsprojekte gibt es nicht.
Doch Nadeshda ist ein Ort, an dem Wunder passieren. Ein kleines Mädchen, mit besonders kurzem Rock und Pumps, schaute uns interessiert an, lächelte, kam rüber, redete und spielte mit den Kindern, nahm sie bei der Hand und tauchte von dem Moment an immer wieder bei uns auf, ja sie schien sich bei uns wohl zu fühlen. Wie schön ist es zu merken, dass ablehnende Reaktionden überwunden werden können.
Nach dem Abendbrot hieß es Disco! Gibt es schöneres, als mit behinderten Menschen zu tanzen? Sie sprühten vor Lebensfreude, lachten, nahmen uns bei der Hand, sprangen auf und ab, bewegten sich wild zu der Musik. Wir drehten die Rollstuhlkinder im Kreis und schleuderten sie schwungvoll über die Tanzfläche, wobei sie laut aufjauchzten. Besonders blühte Loscha auf, so dass ihm nur noch ein Wort über die Lippen ging: „Gjarka! (heiß)“. Plötzlich lief der gehörlose Igor zu den Boxen, legte sein Ohr an die Lautsprecher und war von dort nicht mehr loszueisen – er spürte den Bass!
Nachdem die Kinder sich mit großer Freude und lautem Jubel den Schweiß abduschen ließen und kurz darauf endlich in den Bett lagen, verließen wir das Zimmer mit dem Satz: „Ina, heute Nacht futtern wir nicht die Nähte auf!“. Sie hat die Angewohnheit mit den Fingern und Zähnen fein säuberlich die Nähte ihres T-Shirts auf zu trennen- eigentliche eine Meisterleistung.
In der Zeit in Nadeshda lernte ich auf Kleinigkeiten im Leben zu achten und Momente zu würdigen, wie wenn Olja am Ende der Woche ihre Zahnbürste selbst in die Hand nahm, um sich die Zähne zu putzen. Wenn sie morgens nicht direkt ins Wohnzimmer ging, sondern auf mich wartete und mir ihre Hand entgegen streckte. Erkannte sie mich? Wenn sie lieber alleine, als an meiner Hand lief, weil sie es kann! Wenn die Kinder begannen, miteinander zu spielen und nicht mehr wie üblich alleine.
Sonntag, einen Tag vor unserer Abreise, saßen wir zusammen in der Sonne und hingen traurig unseren Gedanken nach, keiner wollte sich von den Kindern trennen. Da schaffte es Sasha uns mit seinem Lieblingssatz, den keiner von uns vergessen wird, zum Lächeln zu bringen. Die Zauberworte lauteten: „Dawai, prijechali na racciju! (Los, fahren wir nach Russland!)“.
Den meisten von uns kullerten Tränen über die Wangen, als wir am nächsten Morgen leider statt nach Russland, zurück nach Novinki fuhren. Doch heißt es nicht so schön, man sieht sich immer zweimal im Leben? Es wird kein Abschied für immer gewesen sein!