Bericht über den Runden See 2010 von Marie-France Eisner
Zwei wunderbare, aber auch anstrengende Wochen liegen nun hinter uns und niemand will wirklich nach Hause. Natürlich freut man sich auf eine gute Dusche, warmes Wasser und ein weiches Bett, statt einem See und einem Eimer Wasser, oder einer Isomatte. Aber eigentlich könnte man es noch länger so aushalten, man würde trotzdem Holz hacken gehen, drei Mal am Tag ein Feuer machen und jeden morgen den Kascha (Brei), mittags eine Suppe mit Kohl und Kartoffeln und abends Gretschka (Buchweizen) mit Fleisch aus der Dose essen, wenn man dafür nur noch ein klitzekleines bisschen länger hier im Wald bleiben könnte.
Das integrative Sommerlager „Runder See“ wirkt inmitten des Waldes in der Nähe von Minsk fast wie eine Art anderer Planet. Alljährlich findet dieses sehr besondere Lager immer im Sommer, immer in dem gleichen Waldstück statt, aber jedes Jahr bringt es neue Überraschungen und neue Anforderungen an seine Teilnehmer mit sich.
Körperlich eingeschränkt sein in Belarus heißt normalerweise kaum Anschluss an das öffentliche Leben zu finden, es gibt sehr wenige Förderprogramme und weder die Universitäten, noch das sonstige urbane Leben ist auf beispielsweise Menschen im Rollstuhl ausgelegt.
Hier, am „Runden See“, in mitten von Bäumen und Blaubeersträuchern existiert ein Ort, der natürlich (charmant ausgedrückt) einen ruralen Flair versprüht, aber soweit es geht behindertengerecht ist – wie z.B. das rollstuhl – und gehbehindertengerechte Plumpsklo, oder das Speisezelt, mit den selbst gezimmerten Tischen und Bänken.
Hatten einige Freiwillige noch bei der Ankunft bei der Errichtung der Zelte etc. geholfen, hieß es für alle Teilnehmer (körperlich eingeschränkt, oder nicht) nun selbstständig zu werden. Dies ist keine übertriebene Formulierung, denn das „Überleben“ im Wald forderte von jedem seinen Tribut. Zunächst wurden natürlich Teamspiele gespielt, um eine Gemeinschaft zu bilden, aber dann begann es tatsächlich interessant zu werden.
Der Höhepunkt des diesjährigen Lagers war, dass sich die TeilnehmerInnen selbstorganisiert drei Tage lange selber verpflegten und in kleinen Gemeinschaften zusammen leben sollten.
Doch zunächst musste sich ein jeder mit seinen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Drei Tage wurde um Punkte gestritten, gefeilscht und sich angestrengt – viele kamen sowohl körperlich, als auch geistig an ihre Grenzen, denn um die begehrten Punkte zu bekommen musste man sich wirklich richtig anstrengen.
Am Ende zeigte uns das Flipchart wer wie viele Leistungspunkte bekommen hatte…anhand dieser Liste wurden drei Gruppen gebildet. Interessant hierbei war, dass die körperlich nicht eingeschränkten TeilnehmerInnen, welche immer als Leader brilliert hatten die erste, und demnach punktstärkste Gruppe bildeten, obwohl die Auswahl an Wettkämpfen jedem TeilnehmerInnen erlaubt hätte zu den Besten zu gehören.
Niemand der körperlich stark eingeschränkten TeilnehmerInnen hatte den Anspruch an sich selbst gestellt besser als alle anderen zu sein, in der Annahme, die „normalen“ TeilnehmerInnen gewännen sowieso. Das Ziel des Sommerlager war es den eingeschränkten TeilnehmerInnen eben genau das Gegenteil zu beweisen, denn im Prinzip liegen viele Tätigkeiten im Bereich ihrer Möglichkeiten, aber sie stempeln sich selbst leicht zu hilflosen Menschen ab. Ich meine dies nicht im Bezug auf Wissen, denn dort brillierten viele – ich spreche hier von einfachen Dingen wie z.B. dem Schälen einer Mohrrübe (für viele war das selbstständige zubereiten einer Mahlzeit völlig neu und etwas, was sie zum ersten Mal taten). Den anderen Teilnehmern galt es klar zu machen, dass ein Mensch mit körperlichen Einschränkungen natürlich dann und wann Hilfe benötigt, aber nicht wie ein Kleinkind umsorgt werden muss.
Viele der TeilnehmerInnen mit körperlichen Einschränkungen leben zu Hause und genießen ein durchaus komfortables Leben, ohne Hausarbeit und körperliche Anstrengungen. Viele widmen sich ganz der Wissenschaft, was natürlich sehr gut, aber durchaus nicht das ganze Leben sein kann. Natürlich haben sie wie jeder Mensch das Verlangen einen Partner zu finden, eine Familie zu gründen und eigenständig zu leben – meist jedoch gestaltet es sich unter anderem auch durch ihre eigenen Selbstzweifel eher schwierig.
Am Runden See gab es beinahe täglich, wenn nicht sogar stündlich große Fortschritte in Sachen Selbstvertrauen zu beobachten. Das Highlight für alle waren wohl die besagten drei Tage Selbstversuch…jede Gruppe musste sich ja schließlich selbst organisieren, Koch- und Abwaschdienste einrichten, mit dem (Papier)geld haushalten, Feuer machen und nicht zu letzt in dieser Gruppe in einem Gemeinschaftszelt wohnen. Viele machten für sich selbst die völlig neue Erfahrung auch ein Führungsperson sein zu können, mit ihrem Wissen, ihren kulinarischen Kenntnissen, oder ihrem Witz aufgenommen und gewertschätzt zu werden, unabhängig von ihrer Einschränkung.
Dima, einer der Teilnehmer wurde nicht müde zu erzählen, dass er den Runden See so lieben würde, da er hier richtig gleichberechtigt und frei sein kann. Ganz ohne die Bevormundung seiner Eltern, die ihn trotz seiner 20 Jahre nicht wirklich ernst nehmen. „Der Runde See ist für uns ein Netzwerk, dass wir unbedingt brauchen, denn so kommen wir mit gleichgesinnten in Kontakt!“ sagt Dima. Wenn jeden morgen nach dem Frühstück das Programm begann, waren die meisten TeilnehmerInnen noch völlig verschlafen, wenn sie überhaupt geschlafen hatten.
Jede Nacht war das Camp von den schönsten (bela)russischen Gassenhauern erfüllt, während das Lagerfeuer knackte, Geschichten erzählt, geflirtet und Tee getrunken wurde.
Nach zwei Wochen „Ausnahmezustand“ kam doch der Tag des Abschieds, der große Bus rollte durch den kurvigen, sandigen und schlaglochreichen Waldweg zum Camp und es war wie ein Zeichen, dass er auf Grund eines umgestürzten Baumes nicht passieren konnte.
Alle zusammen und doch jeder auf seine Art und Weise gingen wir an die Stelle, and er der Bus wartete. Zuvor hatten wir unsere Kontaktdaten ausgetauscht, Briefchen mit guten Wünschen und kleinen Nachrichten geschrieben.
Das Sommerlager Runder See 2010 wird wahrscheinlich immer eine unvergessliche Zeit für uns alle sein, die uns ein Stück toleranter und weltoffener gemacht hat und in der wir über unseren eigenen kleinen „Tellerrand“ in die Leben der anderen TeilnehmerInnen blicken konnten.
Bericht über den Runden See von Laura Eras
Wunderschön im Wald direkt an einem See gelegen begannen wir (zehn Freiwillige) fünf Tage vor Beginn des Lagers aufzubauen. Als die etwa 40 Teilnehmer anreisten, hatten wir es glücklicherweise geschafft, den benötigten Teil der Wohnzelte, eine Küche, ein Speisezelt und eine Toilette aufzubauen.
Rasnije- Ravnije, wie die Organisation, die das Sommerlager schon seit Jahren organisiert, heißt, bedeutet Unterschiedliche- Gleiche und verbindet junge Erwachsene mit und ohne körperliche Behinderungen, will beide Seiten aneinander führen, die Möglichkeit geben, einander kennen zu lernen, Barrieren im Kontakt abzubauen und will zum Denken anregen. Über den Umgang mit Menschen mit Behinderungen genauso wie über den Umgang mit Nichtbehinderten.
Die Teilnehmergruppe war auch dementsprechend bunt: Die Teilnehmer kamen aus verschiedenen Teilen Belarus, waren zwischen 18 und etwa 39 Jahren alt, hatten teilweise körperliche Behinderungen, waren neu oder hatten schon in vergangenen Jahren am Lager teilgenommen.
In den ersten Tagen folgten Kennenlern- und Gruppen- Spiele, begleitet von zahlreichen Reflektionen. Habe ich alles gegeben, was ich konnte? Habe ich die Aufgabe erfüllt? Welche Rolle nehme ich in der Gruppe ein? Wer ist hier der „Leader“?
Nach diesen Tagen folgte die wohl intensivste Zeit des Lagers, in denen nicht mehr von den Freiwilligen die Mahlzeiten zubereitet wurden, sondern die Teilnehmer in drei Gruppen aufgeteilt wurden, in denen sie sich selbstständig Essen zubereiten mussten und Verdienstmöglichkeiten wie Holzhacken geschaffen wurden, um sich im neueröffneten Lagerladen die nötigen Produkte zu beschaffen. Nebenbei gab es Gruppenwettbewerbe wie Theaterstücke oder eine Lagerrallye, bei denen außerdem Geld für den Laden gewonnen werden konnte, und abends selbstverständlich weiterhin Veranstaltungen, in denen der vergangene Tag reflektiert wurde.
Diese Tage der Selbstversorgung ließen auf allen den größten Eindruck zurück: Zum einen waren sie zwar sehr hart, zum anderen ging nicht nur die Lagergruppe (am Ende vereinten sich alle drei Gruppen und kochten gemeinsam) gestärkt heraus, sondern vor allem die Individuen, unter denen einige waren, die sich noch nie ein eigenes Mittagessen gekocht hatten und dementsprechend stolz auf ihre Leistungen waren.
Während der letzten zwei Tage des Lagers standen Diskussionen im Vordergrund, fast alle hatten mit dem Thema Behinderung zu tun: „Behinderte manipulieren Nichtbehinderte“ oder „Behinderte können keine Führungspersönlichkeiten sein“ hießen zum Beispiel die provokativen Thesen. All diese Diskussionen hinterließen mehr Fragen als Antworten und erfüllten so den Anspruch, zum Denken angeregt zu haben.
Die Lagersituation mit ihren zahlreichen Reflektionen konfrontierte jeden Teilnehmer extrem mit sich selbst, seinen Ansichten, Aussagen und Handlungen. Für viele war dadurch diese Zeit sehr anstrengend. Dennoch reisten am Ende alle sehr zufrieden mit dem Lager und dankbar für die Erfahrungen ab: mit dem Gefühl, ihren Horizont stark geweitet zu haben sowie selbst erkannt zu haben, dass sie mehr können und dürfen, als sie bisher geglaubt hatten. Die wichtigste Erkenntnis des Lagers war am Ende aber trotzdem ganz sicher für jeden einzelnen, das Wissen der eigenen Verantwortung bei allen Handlungen sowie die Bedeutung von Eigeninitiative und Engagement.
Auch das Ziel, das Kennenlernen zwischen jungen Leuten mit und ohne Behinderung verwirklicht zu haben, erreichte das Lager: Am Ende waren zahlreiche Freundschaften entstanden.