Der Sommer 2021 war reich an hervorragenden Abenteuern. Deren großzügige Quelle war die integrative Seminar-Freizeit “Runder See”.
Als ich im Frühling dem Team beigetreten bin, konnte ich mir kaum vorstellen, welche Magie mich erwarten würde.
Eindrücke vom Runden See 2021
Mein persönlicher Erfolg dieser Reise war es, den Begriff „Normen“ zu entlarven. Er hat einfach aufgehört zu existieren und hat sich aufgelöst. Alles, was nicht gegen die menschliche Freiheit verstößt, ist zur Norm geworden. Es war angenehm und cool, unterschiedliche Meinungen und Vorlieben zu haben, verschiedenen Geschlechts zu sein, mit oder ohne Behinderung. Es war normal, irgendjemand zu sein.
Laut der Genregesetze sollte ein längerer Aufenthalt mit unbekannten Menschen in einem Gebiet zu Stress führen. Für mich war dieser Stress überwiegend angenehm. Durch die ununterbrochene Kommunikation entdeckten wir, wie verschieden wir sind. Wir haben die Einzigartigkeit des/r anderen gesehen und sie angenommen. Wir wollten nicht nach Differenzen und Konflikten suchen, im Gegenteil – wir haben die die Menschen in unserer Nähe besser kennen gelernt. Dafür bin ich meinen Nachbarn auf der Lichtung besonders dankbar.
Jeden Tag haben uns die Umstände vor Herausforderungen gestellt. Unzählige Tests zu Toleranz, Verträglichkeit und effektiver Kommunikationsfähigkeit wurden bestanden.
An einem Tag kochten die Teilnehmer:innen ihr eigenes Abendessen aus einer begrenzten Anzahl von Zutaten. Wir (die Teamer:innen) haben sie in der Phase der Lebensmittelverteilung ziemlich verwirrt. Trotz der nervösen Anspannung meisterten die Teilnehmer:innen die Situation souverän und haben alle satt bekommen.
Es war interessant, die Aktionen der Teilnehmer:innen oder die Diskussionen während der Reflexion zu moderieren. Es war, als ob wir auf dem Meeresgrund nach Perlen suchten, wobei wir uns manchmal verirrten, aber wenn wir etwas fanden, war es besonders wertvoll, da wir es gemeinsam geschafft hatten.
Ein wichtiger Teil des Camps war für mich der Hauptblock – Inklusion. Wir haben darüber diskutiert, wie Diskriminierung die Menschenwürde untergräbt und Rechte verletzt, wir haben uns in die Bedingungen hineinversetzt, unter denen einige Menschen von der Gruppe ausgeschlossen wurden, und wir haben herausgefunden, wie wir uns dabei fühlen. In dieser Phase kamen viele Stereotypen zum Vorschein. Wir erkannten, wie viele irrationale unterbewusste Einstellungen sich in uns versteckten und uns am Leben und an der Entwicklung hinderten.
Am ergreifendsten waren für mich die Methoden des modellhaften Staatsaufbaus und “Alias“ mit diskriminierendem Vokabular zu spielen. Beim ersten Mal kamen wir an den Punkt der absoluten Wildheit. Es wurde deutlich, wie leicht und einfach humanistische Werte zerstört werden können. Sie sind keine Selbstverständlichkeit – sie müssen geschützt werden. Und das Spiel bediente jedes Klischee, das den Teilnehmer:innen einfiel. Ihre Vielfalt und Verschiedenheit war erstaunlich. Es ist nicht leicht, den Kopf frei von Vorurteilen zu halten.
Gleichzeitig erhielt ich eine große Portion Inspiration durch die anderen. Dabei spielte es keine Rolle, mit was sie sich beschäftigten: ob sie Schach spielten, ein Floß bauten, oder ein Theaterstück verfassten. Es war sichtbar, mit welcher Begeisterung sie dies tun. Die positive Energie war ansteckend, und jeder wollte sich bewegen, sich anpassen, etwas Spannendes für sich persönlich finden.
An einem realen Beispiel habe ich erfahren, wie perfekt eine Idee funktionieren kann, wenn man ein gutes Team hat. Und das Team im Camp war außergewöhnlich. Es war ein Vergnügen mit den Teilnehmenden zu arbeiten: dank ihrer Aktivität und ihres Engagements, explodierte mein Trainer-Hirn nicht, wenn etwas nicht nach Plan lief. Es gab die Gewissheit, dass mit diesem Team alles funktioniert.
Und natürlich war es eine große Freude, dem juwelenartigen Mechanismus des Lagers zuzusehen und daran teilzuhaben. Es war eine Freude, auf der gleichen Lichtung zu sein wie das Team von Freiwilligen und Organisator:innen. Die Herzlichkeit, mit der alle zum allgemeinen Wohlbefinden beitrugen, war spürbar. Die Verantwortung für die Sache lag in der Luft. Jeder verstand die Besonderheiten des Lebens in der Natur: entfernen wir die Zapfen nicht, würde es beim Schlafen weh tun; Seetang bedeutet kein Platz zum Schwimmen; wenn wir unsere Zelte nicht aufbauen, werden wir vom Regen durchnässt; wenn wir nicht auf den Brei im Kessel aufpassen, werden wir einen traurigeren Start in den Morgen haben als sonst. Ich werde die Erinnerungen an die Erbauer:innen und Architekt:innen einer kleinen Stadt, die für einen Moment in einem belarusischen Wald auftauchte, noch lange bewahren.
Nach dem Camp habe ich mich wohler gefühlt über Tabuthemen, welche in Verbindung mit Gender, Behinderung und Orientierung stehen, zu sprechen. Jetzt fühle ich mich freier, den ein oder anderen Aspekt mit Bekannten zu besprechen. Ebenso verankert ist das persönliche Gefühl für Inklusion und das Verständnis, wie schwierig, aber wichtig es ist, die Besonderheiten eines jeden Menschen zu berücksichtigen und zu respektieren. Und die Rolle der Trainerin gab mir die Erfahrung mit dem Chaos zu arbeiten; es geht nicht darum dem Drehbuch perfekt zu folgen, sondern dem Ziel so nahe wie möglich zu kommen, indem man zwischen den Elementen manövriert wie ein Surfer auf einem Brett.
Es war ein Sommer mit einem Hauch von Sonnenuntergang über dem zinnernen Stausee und Gesprächen auf dem Steg. Das Abenteuer glückte, wie sollte es auch anders sein, wenn die Magie des Runden Sees am Werk war.
Bericht: Anna Yashina, Pasha Andreyuk, Lena Makarovich und Nikolaj Rosolyuk Fragen: Anna Yashina Übersetzung: Jonas Wildermuth
Die Ferienfreizeit „Runder See“ ist das einzige Zeltlager, in dem Jugendliche aus Belarus (nicht nur) aktive Erholung mit intensiver „Bildung in der Natur“ kombinieren. Und da Menschen mit verschiedenen körperlichen Behinderungen an all seinen Events teilnehmen können, wird dieser Ort wirklich einzigartig.
Bekanntlich ist die beste Methode, um sich zu vergewissern, dass ein Projekt Leuten wirklich von Nutzen ist, es über einen längeren Zeitraum zu testen. Das Integrationssommercamp-Seminar „Runder See“ feierte 2018 seinen 20. Geburtstag und erreicht damit fast das Durchschnittsalter der Teilnehmenden. In dieser Zeit entwickelte sich daraus eine „offene Plattform“, in der junge Menschen, über sie betreffende, interessante Themen diskutieren und lernen auf Dinge aufmerksam zu machen, die oft in der Eile unbeachtet bleiben. Auch um einen Ausweg aus ungewöhnlichen Situationen zu finden. Sie schlüpfen in verschiedene, manchmal auch für sie ungewöhnliche Rollen – Generell entwickeln sie Eigenschaften und Fähigkeiten, die ihnen in ihrem Alltag sicher nützlich sind.
Aber das ist nicht einmal die Hauptsache. Wenn Sie die „routinierten“ Teilnehmenden bitten, das Lager zu beschreiben, werden sie definitiv zwei Hauptaussagen nennen: Das wäre zum einen die einzigartige Atmosphäre und zum anderen die Herzlichkeit (in der jeder sehr schnell zu sich selbst wird) zu den Menschen, die hierherkommen.Diese Unterschiede sind zwar manchmal seltsam, aber da sie den Geist des Umgangs untereinander einfangen, auch sehr interessant.
1
Und alles beginnt mit der Ankunft der Freiwilligen. Hier ist er – der erste Teil eines großen Events, sein „harterStart“. Durch den Kraftaufwand von 12-14 Freiwilligen, entsteht auf der bisher leeren Waldlichtung eine richtige Zivilisation. Ihre Aufgabe besteht darin, ein bewohnbares Camp für rund 50 Personen zu errichten. Dazu gehören Orte zum Kochen, zum Lagern von Ressourcen, die Errichtung eines Bads, eines Speisesaals und natürlich, einer Toilette (inkl. Rampen und Haltegriffe für diejenigen, die Gehhilfen oder Rollstühle benutzen). Dafür haben wir vier Tage, was zwar auf den ersten Blick als ausreichend erscheint, in der Praxis hingegen sieht das ganz anders aus.
Freiwilligenarbeit bedeutet einerseits harte Arbeit, Konflikte, Streitigkeiten und manchmal auch beleidigende Worte. Es braucht eben Zeit, sich aneinander zu gewöhnen, um zu verstehen, wer welche Funktionen übernehmen kann und möchte. Andererseits ist es eine gute Gelegenheit, sich von den eigenen Problemen abzulenken und neues zu lernen, was in den Gegebenheiten der Stadt selten möglich ist.
Was man beim „Runden See“ lernen kann: (Eine von einem Freiwilligen vorgeschlagene unvollständige Liste):
1) Das Hirn einschalten 2) buddeln 3) einen Hammer benutzen 4) Holz hacken (Holz ist unterschiedlich und wird unterschiedlich zerkleinert, und wie!) 5) das Ignorieren von Mückenstichen, Schnaken und Ameisen 6) wie man ein Zelt aufstellt 7) in einem Schlafsack schlafen (damit es nachts nicht kalt wird) 8) unabhängiger werden (da die anderen um dich herum im Normalfall beschäftigt sind und sie keine Zeit haben, deine Probleme zu lösen. Es wird zwar geholfen, setze aber nicht darauf, dass du alles anderen aufhalsen kannst) 9) ein Feuer machen (Profis machen es ohne Streichhölzer und Brenner) 10) wie man Essen für 50 Personen über dem Feuer kocht (zudem ist es sehr lecker und gesund) 11) wie man sich mit Birkenzweigen in der Banja „auspeitscht“(ja, wir haben ein Sauna) 12) Schlagzeug spielen (ein Schlagzeug gibt es auch) 13) einen Rollstuhl reparieren 14) Luftmatratzen aufblasen und reparieren 15) den Handy-Akku auf 17 Tage verteilen 16) einen 40-Liter-Topf durch putzen und waschen vom Ruß befreien 17) wie man Nägel schraubt (weil die Schrauben alle sind) und wie man Schrauben hämmert (weil der Schraubendreher abgestumpft ist) 18) Rampen und Geländer entwerfen und bauen 19) mit verschiedenen Leuten kommunizieren 20) konstruktive Kritik akzeptieren 21) äußern von Meinungen 22) Prioritäten setzen 23) sich in kaltem Wasser waschen
Und auch die Freiwilligen nehmen am Runden See teil und haben ebenfalls die Möglichkeit, alle im Lager verfügbaren Rollen auszuprobieren: Sie können an den Bildungsangeboten teilnehmen (dabei werden die Freiwilligen normalerweise in jeweils zwei Gruppen aufgeteilt, die sich im Laufe des Tages abwechseln: Einige haben Küchendienst, andere beteiligen sich an den Trainings) und schaffen die Voraussetzungen, damit diese stattfinden können. Auch als Freiwilliger muss man Arbeiten und zwar mit den Händen und dem Kopf.
Genau in diesem Teil des Lagers, während die Gruppe noch relativ klein ist, ist es leichter Zeit zu finden, welche man mit sich allein verbringen kann. Um Beispielsweise die Aussicht auf wunderschöne Sonnenauf- und -untergänge, den Sternenhimmel vor dem Hintergrund des Mondes, sowie dessen Abbild in der spiegelglatten Oberfläche des Sees, zu genießen.
2
Mit der Ankunft der Hauptteilnehmenden ändert sich grundsätzlich alles. Jetzt ist alles voller Menschen, es wird viel geredet, und der wichtigste Teil des Lagerlebens und dessen Bewohnenden beginnt, das Bildungsprogramm. Kurz gesagt, die Aufgabe der Führungskräfte besteht darin, die Teilnehmenden in bestimmte Situationen zu bringen und ihnen die Gelegenheit zu geben, über diese nachzudenken und zu diskutieren, damit sie daraus ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen können. All dies hilft eine andere Sichtweise auf sich und sein eigenes Leben zu gewinnen. Plötzlich hört man auf, Menschen mit Behinderungen wie Kristallvasen zu behandeln, die nur gehätschelt und getätscheltund vom Staub befreit werden müssen, und erkennt, dass es gewöhnliche Menschen sind: Diejenigen, mit denen man über das Leben sprechen und über alte Witze lachen kann.
Natürlich fällt das Programm jedes Jahr sehr unterschiedlich aus, da nämlich alles (na gut oder fast alles) von den Leuten abhängt, die daran teilnehmen. Umso aktiver die Menschen sind, desto lustiger und interessanter werden alle Aktionen.
Die Minsker Elena Makatovich (Lena) und Nikolai Rosolyuk (Kolja) waren einverstanden, mit mir über das zu sprechen, was beim Runden See 2018 passierte. Die beiden fuhren, auf Einladung ihrer Freundin Kati zum ersten Mal mit ins Lager. Diese möchte sich zusammen mit anderen Helfenden, in der Rolle eines „Trainers“ versuchen. Die Trainer*innen beschäftigen sich mit der Entwicklung und Durchführung des Bildungsprogramms im Lagerseminar.
Ich: Ich frage gleich einmal, wie sich junge Leute eine solche Freizeit, vor deren Beginn, vorgestellt haben?
Lena: Ich hatte extrem vage Vorstellungen vom Lager. Diese repräsentierte nicht die gesamte Situation, das Gleichgewicht des Lebens, den Grad der Beschäftigung und andere Dinge. Ich wusste, dass es viele Aktivitäten und methodische Aufgaben geben wird, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es manchmal gar eine „Gehirnexplosion“ (Lächeln) gibt. Ich habe gesehen, dass Katja und andere Trainer*innen das Programm sorgfältig vorbereitet haben, und ihre Bemühungen haben wirklich hervorragende Ergebnisse hervorgebracht!
Kolja: Ich war sofort interessiert, als ich von dem Lager hörte. Ich habe einen Freund aus Kindertagen mit einer Zerebralparese, aber darüber hinaus habe ich keine näheren Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung gemacht. Ich habe nicht einmal versucht, mir Pläne für diese 10 Tage zu erstellen, aber heute bin ich froh, dass ich hierhergekommen bin!
Ich: Und dennoch, welche Schwierigkeiten hattet ihr?
Lena: Seltsamerweise war die Notwendigkeit viele Menschen kennenzulernen und mit dieser großen Gruppe an Leuten zu kommunizieren, das Schwierigste für mich. Aber auch die Teilnahme am Spiel, in dem wir in Elite und Nichtelite aufgeteilt wurden, fiel mir schwer.
(Anmerkung des Verfassers: Eine Gruppe von Eliten bildete sich ungefähr in der Mitte des Lagers. Unter ihnen waren die Teilnehmenden, die bis zu diesem Zeitpunkt das meiste Geld verdienen konnten. Die Elite musste Steuern einnehmen, die Umsetzung der Gesetze überwachen, im allgemeinen die Funktionen ausführen, die normalerweise der Staat übernimmt. Dass dieser Moment Lena nicht kalt ließ, wurde Beispielsweise sichtbar, als sie bemüht war, von der herrschenden Minderheit herauszufinden, ob ihnen dieser Tag gefällt und wie sie generell dazu stehen, was hier gerade passiert. Manchmal scheint es mir so, dass nur der Runde See, bei einem „Spiel“, solche aufrichtigen Emotionen bei Erwachsenen verursachen kann.)
Zum Ersten: Ich bin nicht gerade eine sehr gesellige Person und manchmal fällt es mir schwer, Kontakte zu knüpfen. Dabei reicht eine große Anzahl von Fremden, sowie der Fakt dass viele von ihnen eine Behinderung haben, nicht aus, um das Problem zu lösen. Jedoch wusste ich sehr genau, wohin ich mich begebe und war für die Tatsache bereit, dass ich dazu viele neue Leute kennenlernen werde und mit ihnen zusammenleben muss. Aber auf die Methode „mit der Elite und dem Rest“ war ich nicht vorbereitet. Ich bin immer noch erstaunt, wie sehr mich diese Unterteilung getroffen hat.
Ich: Worauf genau beziehen sich deine Erfahrungen?
Lena: Zum Beispiel hat mich der kostenpflichtige Pier schockiert! (Lächelt) (Anmerkung des Verfassers: Eine hölzerne Plattform auf dem Wasser, auf der sich die „Residenz“ der privilegierten Gruppe befand) Außerdem habe ich bemerkt, wie sich das Verhalten einiger Mitglieder innerhalb der Elite verändert hat. Auf der anderen Seite wollte ich selbst nicht in diese Gruppe. Ich möchte nicht die Macht an mich reißen, auch nicht im realen Leben. Wahrscheinlich möchte ich einfach keine Verantwortung für andere übernehmen.
Unterdessen gibt Kolja bescheiden zu, dass für ihn die ersten zwei Tage am schwierigsten zu sein schienen, bis sich alle langsam kennenlernten, endlich Mut fassten und miteinander zu reden begannen.
Kolja: Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich bei der offenen Wahl zum Lagerleiter gewählt wurde. Ich verspürte eine ganze Reihe verschiedener Emotionen, zum Großteil negative. Ich habe das nicht angestrebt und wollte diese Verantwortung einfach nicht übernehmen.
Ich: Und wenn ich euch bitte, eure persönlichen drei Highlights des Lagerlebens ins Gedächtnis zu rufen, welche Beispiele würdet ihr nennen?
Kolja: Es gab viele Highlights und unvergessliche Momente! Das und die Emotionen der Menschen, alle möglichen Vorfälle,aber lieber möchte ich von den Übungen erzählen, die mir besonders aufgefallen sind.
Die Erste habe ich bereits erwähnt. Dies war, als die Gruppe mit geschlossenen Augen und einem gemeinsamen Marker, den jeder der Teilnehmenden an einer Schnur angebunden hatte, gemeinsam das Wort „Leiter“ schreiben musste. Bei dieser Aufgabe hat mich das Resultat sehr erfreut, auch wenn ich nicht bereit war, dafür die Führungsrolle zu übernehmen.
(Anmerkung des Verfassers: Während dieser Übung sollte jede der drei Gruppen das Wort „Leiter“ mit der von Nikolai beschriebenen Methode „zeichnen“. Alle Mitglieder der Gruppe sahen also nichts, außer ihrer Leitperson, die die Aufgabe ihrer “Augen” übernehmen und dem Rest beschreiben sollte, was sie zu tun hatten. Dafür wurde Kolja in einer offenen Abstimmung zur Leitung einer Gruppe gewählt. Die zweite Gruppe überließ, mit Hilfe von Losen, dem Zufall die Wahl ihrer Führungshilfe. Währenddessen blieb die dritte Mannschaft ohne Hilfe und musste in völliger Dunkelheit agieren. Das Resultat beeindruckte und freute Kolja, dass genau die letzte Gruppe, ohne Hilfe von außen, gewinnen konnte. Dies bestärkte seine Meinung, dass eine Führungsperson in solchen Fällen die Menschen nur daran hindert, sich aufeinander einzustellen.)
Mein Gesprächspartner ist sich übrigens immer noch sicher, dass ein solches Szenario vorhergesehen wurde. Obwohl die Coaching-Gruppe nichts geplant hat, wären sie mit jedem anderen Ergebnis gleichermaßen zufrieden gewesen.
Die zweite Übung hieß „Mit Haferbrei und Gefangenen“. (Anmerkung des Verfassers: Hier musste das Getreide aussortiertund die an den Baum gebundenen Mitglieder des Teams befreit werden). So wie alle versuchten, die Decke zu sich zu ziehen, konnten oder wollten sie sich nicht einigen. Schließlich konnte jeder buchstäblich innerhalb einer Stunde freigelassen werden, indem er sorgfältig überlegte und die richtigen Entscheidungen traf.
Die dritte Übung hieß „Kernen und Schalen“. (Anmerkung des Autors: Die Aufgabe der Teilnehmenden bestand darin, eine Katastrophe zuvermeiden) Alle haben es als Spiel wahrgenommen und fokussierten sich auf die Geheimschrift. Es war jedoch notwendig aufeinander zu zählen und sich auf die Nebensächlichkeiten zu fokussieren. Aber nein, sie haben mit der Geheimschrift gespielt…und mehre Millionen Menschen verloren!
Lena: Ich erinnere mich noch an die Abendprogramme, die von den Teilnehmenden vorbereitet wurden. Sie verbanden und helfen dabei, Talente ans Tageslicht zu bringen, in dem man sich in etwas Neuem probiert. Oder an die Aufgaben in großen Gruppen, zum Beispiel die, bei der ein Fass mit Erde befüllt werden sollte, hierbei musste jeder aus dem Team bei der Befüllung helfen. Diese Aufgabe hat dazu beigetragen, unseren Teamgeist zu stärken!
Ich: Was fiel euch, bei der Interaktion mit Menschen mit Behinderung, am schwierigsten?
Kolja: Wie schon gesagt, die ersten drei Tage erwiesen sich als die schwierigsten. Dann wurde mir klar, dass alles, was sich in meinem Kopf festgesetzt hatte, dumme Vorurteile waren. Trotzdem ist es sehr unfair, dass es so interessante, intelligente und aktive Menschen gibt, die durch den Willen des Schicksals in ihren Körpern gefangen sind und dieser ihnen verdammt nochmal nicht gehorcht.
Dazu muss gesagt werden, dass Lena keine besonderen Probleme in der Interaktion zwischen „gesunden“ und Menschen mit Behinderung sah.
Ich: Und wer profitiert mehr von solchen Events, Menschen mit oder ohne körperliche Behinderung?
Lena: Events wie der Runde See sind sowohl für Menschen mit Behinderungen als auch für „gesunde“ Menschen von Nutzen. Es gelingt eben nicht immer ein aktives Leben zu führen und mit neuen Menschen zusammenzukommen. Der Runde See ist ein Ort, an dem all dies möglich ist. Interessante methodische Aufgaben und Spiele, Natur und frische Luft, ein Szenenwechsel und vor allem Kommunikation und Diskussion über akute Probleme – das was uns allen im Alltag manchmal fehlt. Es ist hilfreich und interessant in einem. Ich hoffe, dass ich wieder hierherkommen werde.
Kolja: Für gesunde Menschen ist es eine erstaunliche Chance, Vorurteile abzubauen und Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit körperlichen Einschränkungen zu sammeln. Gleichzeitig ist es für Menschen mit Behinderungen eine Gelegenheit, interessant, aktiv und abwechslungsreich Zeit zu verbringen. Also wahrscheinlich (lächelt).
Zum Schluss bitte ich Kolja, denjenigen, die zum ersten Mal hierherkommen, ein paar praktische Ratschläge zu geben.
– Verschwendet keine Zeit! Lernt lieber alle kennen und beteiligt euch so aktiv wie möglich an allen Aktionen! – Nicolai beendet unser Gespräch begeistert.
3
Kolja und Lena haben alles was passiert ist, ausführlich beschrieben – das Programm hat sie wirklich beeindruckt. Obwohl es meistens von Personen ausgearbeitet und realisiert wird, die sich nicht professionell mit der Thematik befassen. Darin liegt ein weiteres Merkmal des Camps und es beweist, dass sich jeder in der Leitung oder als Trainer*in versuchen kann.
Es reicht aus, sich mit den Menschen vom belarussischen Jungendverband „Verschiedene-Gleiche“ in Verbindung zu setzen, sie werden von ihren Projekten berichten. Nun und weiter… lernen, lernen und nochmal lernen! Sie erklären euch innerhalb von sechs Monaten (+/- ein paar Monate), wie man sich Ziele und Aufgaben setzt, eine Logik aufbaut, Übungen auswählt und anpasst. Außerdem gibt es danach die Möglichkeit, diese auch anzuwenden. Natürlich wird es nicht einfach! Aber definitiv interessant und sehr nützlich für die Selbstentwicklung, es lohnt sich also!
Aber die zehn Tage, deren Vorbereitung so viel Zeit und Mühe kosten, verfliegen normalerweise im Wind. Und nachdem die Teilnehmenden abgereist sind, beginnt der dritte, trostloseste Teil des „Runden Sees“. In dem die Freiwilligen das leere, vor kurzem noch mit eigenen Händen erschaffene Lager, nach zwei intensiven Wochen, voller Nostalgie abbauen und hoffen, dass sie nächstes Jahr wieder hierher zurückkehren können…
Pünktlich zum Ende eines langen Sommers, in dem in Belarus wieder viele Freizeiten und Projekte durchgeführt wurden, berichtet Flora vom Runden See. Als neues Mitglied bei Kanikuli hat Flora sich im Frühjahr entschieden, zur inklusiven Sommerfreizeit von Raznye-Ravnye zu reisen und gibt hier einen kleinen Einblick:
„Dieses Jahr stand das alljährliche Treffen „Krugloje Ozero“ (Runder See) unter einem ganz besonderen Motto. Das inklusive Sommerlager, veranstaltet und organisiert durch die belarusische Organisation Raznye-Ravnye, feierte sein 20-jähriges Bestehen!
Fünf Tage vor dem Beginn des Zeltlagers trafen sich in Minsk dreizehn motivierte junge Erwachsene und die beiden Organisator*innen von Raznye-Ravnye, Vadim und Polina, um drei Busse mit allerlei Materialen, Werkzeugen und Lebensmitteln für den Runden See zu beladen. Vollgepackt bis unters Dach ging es dann in das knapp 65km entfernte Akalova.
Jeder Tag der Aufbauwoche begann früh um 8 Uhr und endete um 21 Uhr. In abwechselnden Kleingruppen wurde eine Toilette errichtet, die auch barrierefrei zugänglich war, eine Banja (Sauna) gebaut und sehr viel Krach gemacht. In der Banja konnten wir nach 4 harten Tagen des Aufbaus zum ersten Mal gemeinsam entspannen. Ging man nach dem Schwitzen schwimmen, konnte man mit viel Glück Sternschnuppen vom Himmel fallen sehen.
Als die Busse mit den Teilnehmer*innen im Lager eintrafen, herrschte große Wiedersehensfreude und Aufbaustress. So wie die Zelte, konnten auch Isomatten und Schlafsäcke geliehen werden, welche wiederum dank großzügiger Spenden neu angeschafft werden konnten. Im Anschluss fand das erste gemeinsame Mittagessen statt und Vadim, der Organisator des Lagers, klärte alle über das anstehende Programm und die notwendigen Verhaltensregeln auf.
Das diesjährige Lager widmete sich der thematischen Aufarbeitung und kritischen Reflexion von Diskriminierung. Was ist Diskriminierung? Wo fängt Diskriminierung an? Was unterscheidet Diskriminierung von Ausgrenzung? Wo sehe ich mich im Alltag von Diskriminierung bedroht? Und was kann ich gegen Diskriminierung machen? Um all diese Fragen Stück für Stück zu beleuchten und uns gegenseitig im Kampf gegen Diskriminierung zu stärken, haben wir jeden Tag der zehntägigen Freizeit Gruppenspiele gespielt, die unser gegenseitiges Vertrauen stärken und unsere Kommunikation fördern. So wurden in einzelnen Spielen deutlich, dass wir vereint als Team von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in Kooperation miteinander ans Ziel kommen.
Es gab sehr unterschiedliche Gründe für jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer, aber auch Freiwillige*n an diesem Lager teilzunehmen und so kam es vor, dass manche früher abreisten oder einige Emotionen soweit hochkochten, dass geweint wurde. Aber alle fanden in dieser gemeinsamen Zeit Freunde die füreinander einstanden, die einander halfen und mit denen man am allabendlichen Lagerfeuer Lieder sang.
Das inklusive Sommerlager „Runder See“ ist ein gelungenes Beispiel für Inklusion und Empowerment. Alle Beteiligten, egal ob Freiwillige oder teilnehmende Personen, haben in dieser doch recht kurzen Zeit viel über sich selbst und ihre Gegenüber gelernt. Mit viel Reflexion und kritischer Auseinandersetzung ist wieder einmal ein ganz besonderes Lager zu Ende gegangen, auf das sich viele im nächsten Jahr freuen.“