von Anja* (Trainerin)
Der Sommer 2021 war reich an hervorragenden Abenteuern. Deren großzügige Quelle war die integrative Seminar-Freizeit “Runder See”.
Als ich im Frühling dem Team beigetreten bin, konnte ich mir kaum vorstellen, welche Magie mich erwarten würde.
Mein persönlicher Erfolg dieser Reise war es, den Begriff „Normen“ zu entlarven. Er hat einfach aufgehört zu existieren und hat sich aufgelöst. Alles, was nicht gegen die menschliche Freiheit verstößt, ist zur Norm geworden. Es war angenehm und cool, unterschiedliche Meinungen und Vorlieben zu haben, verschiedenen Geschlechts zu sein, mit oder ohne Behinderung. Es war normal, irgendjemand zu sein.
Laut der Genregesetze sollte ein längerer Aufenthalt mit unbekannten Menschen in einem Gebiet zu Stress führen. Für mich war dieser Stress überwiegend angenehm. Durch die ununterbrochene Kommunikation entdeckten wir, wie verschieden wir sind. Wir haben die Einzigartigkeit des/r anderen gesehen und sie angenommen. Wir wollten nicht nach Differenzen und Konflikten suchen, im Gegenteil – wir haben die die Menschen in unserer Nähe besser kennen gelernt. Dafür bin ich meinen Nachbarn auf der Lichtung besonders dankbar.
Jeden Tag haben uns die Umstände vor Herausforderungen gestellt. Unzählige Tests zu Toleranz, Verträglichkeit und effektiver Kommunikationsfähigkeit wurden bestanden.
An einem Tag kochten die Teilnehmer:innen ihr eigenes Abendessen aus einer begrenzten Anzahl von Zutaten. Wir (die Teamer:innen) haben sie in der Phase der Lebensmittelverteilung ziemlich verwirrt. Trotz der nervösen Anspannung meisterten die Teilnehmer:innen die Situation souverän und haben alle satt bekommen.
Es war interessant, die Aktionen der Teilnehmer:innen oder die Diskussionen während der Reflexion zu moderieren. Es war, als ob wir auf dem Meeresgrund nach Perlen suchten, wobei wir uns manchmal verirrten, aber wenn wir etwas fanden, war es besonders wertvoll, da wir es gemeinsam geschafft hatten.
Ein wichtiger Teil des Camps war für mich der Hauptblock – Inklusion. Wir haben darüber diskutiert, wie Diskriminierung die Menschenwürde untergräbt und Rechte verletzt, wir haben uns in die Bedingungen hineinversetzt, unter denen einige Menschen von der Gruppe ausgeschlossen wurden, und wir haben herausgefunden, wie wir uns dabei fühlen. In dieser Phase kamen viele Stereotypen zum Vorschein. Wir erkannten, wie viele irrationale unterbewusste Einstellungen sich in uns versteckten und uns am Leben und an der Entwicklung hinderten.
Am ergreifendsten waren für mich die Methoden des modellhaften Staatsaufbaus und “Alias“ mit diskriminierendem Vokabular zu spielen. Beim ersten Mal kamen wir an den Punkt der absoluten Wildheit. Es wurde deutlich, wie leicht und einfach humanistische Werte zerstört werden können. Sie sind keine Selbstverständlichkeit – sie müssen geschützt werden. Und das Spiel bediente jedes Klischee, das den Teilnehmer:innen einfiel. Ihre Vielfalt und Verschiedenheit war erstaunlich. Es ist nicht leicht, den Kopf frei von Vorurteilen zu halten.
Gleichzeitig erhielt ich eine große Portion Inspiration durch die anderen. Dabei spielte es keine Rolle, mit was sie sich beschäftigten: ob sie Schach spielten, ein Floß bauten, oder ein Theaterstück verfassten. Es war sichtbar, mit welcher Begeisterung sie dies tun. Die positive Energie war ansteckend, und jeder wollte sich bewegen, sich anpassen, etwas Spannendes für sich persönlich finden.
An einem realen Beispiel habe ich erfahren, wie perfekt eine Idee funktionieren kann, wenn man ein gutes Team hat. Und das Team im Camp war außergewöhnlich. Es war ein Vergnügen mit den Teilnehmenden zu arbeiten: dank ihrer Aktivität und ihres Engagements, explodierte mein Trainer-Hirn nicht, wenn etwas nicht nach Plan lief. Es gab die Gewissheit, dass mit diesem Team alles funktioniert.
Und natürlich war es eine große Freude, dem juwelenartigen Mechanismus des Lagers zuzusehen und daran teilzuhaben. Es war eine Freude, auf der gleichen Lichtung zu sein wie das Team von Freiwilligen und Organisator:innen. Die Herzlichkeit, mit der alle zum allgemeinen Wohlbefinden beitrugen, war spürbar. Die Verantwortung für die Sache lag in der Luft. Jeder verstand die Besonderheiten des Lebens in der Natur: entfernen wir die Zapfen nicht, würde es beim Schlafen weh tun; Seetang bedeutet kein Platz zum Schwimmen; wenn wir unsere Zelte nicht aufbauen, werden wir vom Regen durchnässt; wenn wir nicht auf den Brei im Kessel aufpassen, werden wir einen traurigeren Start in den Morgen haben als sonst. Ich werde die Erinnerungen an die Erbauer:innen und Architekt:innen einer kleinen Stadt, die für einen Moment in einem belarusischen Wald auftauchte, noch lange bewahren.
Nach dem Camp habe ich mich wohler gefühlt über Tabuthemen, welche in Verbindung mit Gender, Behinderung und Orientierung stehen, zu sprechen. Jetzt fühle ich mich freier, den ein oder anderen Aspekt mit Bekannten zu besprechen. Ebenso verankert ist das persönliche Gefühl für Inklusion und das Verständnis, wie schwierig, aber wichtig es ist, die Besonderheiten eines jeden Menschen zu berücksichtigen und zu respektieren. Und die Rolle der Trainerin gab mir die Erfahrung mit dem Chaos zu arbeiten; es geht nicht darum dem Drehbuch perfekt zu folgen, sondern dem Ziel so nahe wie möglich zu kommen, indem man zwischen den Elementen manövriert wie ein Surfer auf einem Brett.
Es war ein Sommer mit einem Hauch von Sonnenuntergang über dem zinnernen Stausee und Gesprächen auf dem Steg. Das Abenteuer glückte, wie sollte es auch anders sein, wenn die Magie des Runden Sees am Werk war.
*Name geändert